20 Theatergruppen mit 200 Spielerinnen und Spielern aus allen Landesteilen machen bei der Grossproduktion Theaterprojekt «1918.CH» mit. work stellt drei Gruppen vor.
AUFSTAND: Bei den Proben für die Aufführung über die Bieler Jungburschenkrawalle von 1918. (Foto: Alexander Egger)
Gastspiel Biel:«Für die Lebenden und nicht für die Toten»
Ein schwüler Dienstagabend hinter dem Bieler Bahnhof. Hier liegt der Jugendtreffpunkt X-Project. Im Untergeschoss probt eine Rockband. Ein junger Mann karrt Getränkekisten aus dem Gebäude, vorbei an einer Gruppe Jugendlicher in Trainingsklamotten, die mit Kartoffeln um sich schmeissen und laut schreien. Sie klettern an Regenrinnen und Absperrgeländern herum und proben eine Mischung aus Tanz, Kampfsport und Klettern im städtischen Umfeld. Das nennt sich Parcouring. Dann überwerfen sie sich, kugeln am Boden herum und brechen in Gelächter aus. «Das ist nicht lustig!» wirft Regisseurin Christine Schmocker (27) ein, «also vergesst nicht, ihr habt Hunger!»
FREIE JUGEND. Tatsächlich probt die Jugendgruppe für das nationale Theaterprojekt 1918.ch. Der Beitrag aus der Stadt Biel zum Landesstreiktheater heisst «On renverse le gouvernement» (Wir stürzen die Regierung) und handelt vom Jungburschenkrawall, bei dem sich Biels Freie Jugend im Krisenjahr 1918 mit Steinen und Kartoffeln werfend in die Politik einmischte. Mitspieler Daniel (21), der auch bei den Juso ist, erklärt: «Biels Freie Jugend, das waren die Vorläufer der heutigen Jungsozialisten. Und Fritz Waldmann, der Präsident der Freien Jugend Biel, war sozusagen unser Che Guevara!»
BITTERE ARMUT. Auf dem Weg übers Theater in die Geschichte einzutauchen sei wirklich spannend, sagt Daniel. Die Forderungen von damals seien erschreckend aktuell, besonders angesichts des Sozialabbaus: «Klar müssen wir heute nicht mehr Hunger leiden. Aber Parallelen sehe ich ganz klar.»
So stehen für manche der Teilnehmenden die politischen Aspekte des Projekts im Vordergrund, während andere erst während der Proben in Biel überhaupt vom Landesstreik erfahren haben. So wie Zoë (20), die vom Geräteturnen kommt und sich sehr über die Kletterpartien freut. Und Janis (16), der seit dem Kindergarten in Theatergruppen mitspielt, sagt: «Das habe ich gar nicht gewusst, dass die Leute in der Schweiz so arm waren.» Auch Regisseurin Schmocker hat bei der Recherche zum Stück gestaunt, wie bitter die Armut der Arbeitenden vor hundert Jahren war: «Kohle und Öl waren damals so knapp, dass im kalten Winter 1917/18 das Krematorium in Biel abgestellt wurde, mit der Begründung, man müsse den Brennstoff für die Lebenden und nicht für die Toten verwenden.»
Olten: 29. und 30. August, 24. September.
Aufführung von «On renverse le gouvernement» im Neuen Museum Biel anlässlich des Jahrestags des Jungburschenkrawalls, 8. Juli um 14 Uhr.
Gastspiel Tessin:«Mit dem Esel nach Olten»
ZU FUSS: Flavio Stroppini wandert mit seinem Esel über die Alpen nach Olten. (Foto: ZVG)
Schon am 1. August wird Flavio Stroppini mit dem Fallschirm in Bellinzona landen und in die Rolle eines Fabrikarbeiters schlüpfen, der vor hundert Jahren im SBB-Werk, den Officine von Bellinzona, gearbeitet und dort am Landesstreik teilgenommen hat.
Sì, RIVOLUZIONE! Stroppini sagt: «Die Figur ist erfunden, sie steht für all die Arbeiter, die damals gestreikt haben. Aber einer, einer ist aufgestanden, als der Streik abgebrochen wurde. Und er hat laut nach der Revolution geschrien. Diese hat, wie wir alle wissen, nicht stattgefunden.» Das möchte der Tessiner Autor und Schauspieler zumindest als Kunstaktion nun ändern. Deshalb nennt er sein Projekt: «Sì, Rivoluzione!» (Ja, Revolution!)
Zusammen mit seinem Esel Ronzinante wird er losmarschieren und nach der verlorenen Revolution suchen. Mann und Esel werden zu Fuss den Gotthard überqueren und nordwärts halten, bis sie dann am 16. August pünktlich für die Premiere des grossen Landesstreiktheaters in Olten ankommen. Stroppini: «Unterwegs werden Freunde dazustossen, die mich auf der Suche nach der Revolution begleiten, Musiker, Autoren, Capoeira-Tänzer und andere Künstler.» Die Reise führt von Bellinzona über Biasca, Faido und Airolo ins Obergoms. Von dort geht’s ins Grimsel-Hospiz, dann nach Guttannen. Weitere Etappen sind Meiringen, Kaiserstuhl, Stansstad, Rippertschwand, Knutwil, Zofingen und dann Olten. Wer die Gauklertruppe unterwegs sehen will, findet auf der Website nucleomeccanico.com Angaben, wo sie sich wann genau befindet.
An dem Projekt auf der Suche nach der Revolution arbeitet im Hintergrund ein ganzes Team mit. Die Tessinerin Monica De Bendictis leitet zusammen mit Flavio Stroppini das Projekt. Filmemacher Valerio Casanova wird jeden Tag über die Reise und die Aktionen, die die Gastkünstler unterwegs veranstalten, mit einem Video berichten. Und auch die Tessiner Medien begleiten die Reise nach Olten. So werden an der Premiere am 16. August wohl nicht nur Mann und Esel, sondern eine ziemlich grosse Vertretung aus dem Tessin teilnehmen.
Olten: 16./17./18. August
Die Videos zur Reise sind zu sehen auf: nucleomeccanico.com
Gastspiel Uri:Erstfelder Pionierinnen
FEMINISTINNEN VON DAMALS: Urner Theaterleute proben für ihren Beitrag beim Theaterspektakel 1918.ch in Olten. (Foto: Paul Gwerder)
Schwer liegen die Eisenbahnschwellen auf dem Boden im Zeughaus Altdorf UR. Sieben Frauen und drei Männer hauen mit grossen Theaterhämmern lautstark auf das Holz. Ein Perkussionist verstärkt den Lärm mit Trommeln. Wir befinden uns an einer Probe für den Urner Beitrag an das nationale Landesstreiktheater in Olten. Die Schienen, die die Theaterleute in Altdorf übungshalber verlegen, symbolisieren den Weg in die Zukunft. Immer wieder donnern Züge heran. Die Gleisarbeiterinnen und -arbeiter schauen ihnen nach.
FORTSCHRITTLICH. Lukas Meili, der den Urner Beitrag geschrieben hat, stiess in Gewerkschaftsarchiven auf Veranstaltungshinweise zum Frauenstimmrecht in Erstfeld. Er sagt: «Insbesondere im ‹Grütlianer› gab es Artikel über die Treffen der Eisenbahnerfrauen. Die waren sehr fortschrittlich, und auch die Männer waren für das Frauenstimmrecht.» Er erzählt, vor hundert Jahren seien viele Lokführer nach Erstfeld gezogen, weil dort aufgrund der Steigung jeweils eine zweite Lok an die Gotthardzüge gehängt werden musste, «das waren progressive, politische Menschen. Schon 1913 gründeten sie einen politischen Frauenverein, und luden Feministinnen der ‹Vorkämpferin› aus Zürich zu Vorträgen ein. Sie waren ausserordentlich aktiv und haben die Bevölkerung politisiert.»
Im Theaterstück bauen die Männer und Frauen an der Eisenbahnlinie, die den Fortschritt zu ihnen bringen soll. Die Schienen sind ein Symbol für die Hoffnung auf das Frauenstimmrecht und die Gleichberechtigung. Doch während in Australien, Finnland, den Niederlanden, Russland oder Grossbritannien die Frauen nach und nach das Stimmrecht erkämpften, fährt dieser Zug an den Frauen aus Erstfeld vorbei. Obwohl die Einführung des Frauenstimmrechts beim Landesstreik 1918 zu den zentralen Forderungen gehörte, mussten in der Schweiz Jahrzehnte vergehen, bis es endlich auf nationaler Ebene eingeführt wurde. Was Meili bei seinen Recherchen besonders berührt hat: «Diese mutigen Frauen aus Erstfeld waren Pionierinnen. Aber sie kommen in keinen Geschichtsbüchern vor!» Mit seinem Stück will er ihrem Wirken nun ein würdiges Denkmal setzen.
Olten: 5., 6. und 7. September
Uri: 28. September, Lokremise Erstfeld, im Rahmen des kantonalen Gedenkanlasses zum Generalstreik, mit Historikerin Elisabeth Joris.