Meyers verliebten sich bei Vögele
Bei OVS erlebten sie einen Albtraum!

Marco und Esther * Meyer verkauften dreissig Jahre lang Kleider bei Vögele. Dann kam der Modegigant OVS und stellte sie auf die Strasse.

MARCO UND ESTHER MEYER: «Die Schliessung der OVS-Filialen war schlicht zum Kotzen.» (Foto: Matthias Luggen)

Sie: «Herr Meyer, Ihr Hemdkragen ist schief!» Er: «Danke! Das git en Kafi.» So fing alles an, vor dreissig Jahren. Sie hatten beide neu bei Charles Vögele angefangen, sie, die junge Quereinsteigerin, die nach einer Coiffeuselehre in die Modebranche wechselte, und er, der Vollblutverkäufer. Schnell freundeten sie sich an, dann wurden sie ein Liebespaar. Kommenden Herbst feiern sie ihre silberne Hochzeit.

WIEDER VORNE ANFANGEN

Es ist angenehm schattig auf dem Balkon. Marco Meyer (64) erzählt: «Nach dreissig Jahren haben sie uns einfach den Schuh gegeben.» Ende Juni erhielten die Meyers die Kündigung, gleich wie alle anderen 1178 Angestellten bei OVS auch. Der italienische Modegigant, der die marode Charles Vögele vor nur anderthalb Jahren übernahm und grosse Versprechen machte, lässt seine Schweizer Tochtergesellschaft schon wieder fallen. Konkurs. Ohne Sozialplan. Es ist die grösste Massenentlassung in der Geschichte des Schweizer Detailhandels.

Marco Meyer sagt: «Ich habe es gut. Ich muss keine neue Stelle mehr suchen. Ich habe nur noch drei Monate bis zur Pensionierung.» Esther Meyer hingegen ist erst 49. Sie muss nun eine neue Stelle finden. Darum will sie auch nicht mit vollem Namen in der Zeitung erscheinen.

Zwar hat sie zehn Jahre lang eine Abteilung geleitet. War verantwortlich für sechs Kassen gleichzeitig. Übernahm die Aufgaben der Filialleiterin, wenn diese nicht da war. Aber sie hat nie eine formelle Aus- oder Weiterbildung im Detailhandel gemacht. Und das ist jetzt das Problem auf der Stellensuche: «Ich müsste wieder bei null anfangen», sagt sie. «Aber ich habe nicht noch einmal 30 Jahre Zeit, um mich hochzuarbeiten.»

Kommt dazu: Die ausgeschriebenen Jobs im Verkauf seien fast alles Teilzeitstellen mit tiefem Pensum, 20 bis höchstens 60 Prozent, und seien fast immer nur im Stundenlohn bezahlt. «Ich müsste zwei Jobs annehmen, um über die Runden zu kommen.»

VERARSCHT

So etwas wie mit OVS, das haben Meyers noch nie erlebt: unvorstellbar und unglaublich demütigend. Zum Beispiel die Geschichte mit dem Dienstaltersgeschenk: Exakt eine Woche bevor OVS die Reissleine zog, bekam Esther Meyer noch eine Prämie von gut 5000 Franken, fürs dreissigste Dienstjubiläum. «Als Zeichen der Anerkennung Ihrer treuen Dienste», hiess es im Brief. Das freute die Verkäuferin riesig. Doch die Freude hält nicht lange – OVS nimmt ihr das Geschenk wieder weg. In den Lohnabrechnungen, die work vorliegen, wird die Prämie einen Monat später plötzlich zum «Vorschuss», der ihr nun abgezogen wird. Konsequenz: Im Juni erhält sie gar keinen Lohn, im Juli bloss 700 Franken. Das habe ihr den Rest gegeben, erzählt Meyer: «Ich habe nur noch geheult. Ich kannte das nicht, dass man mit den Leuten derart umspringt.»

«Beraldo, du bist ein Gangster!»

Kurz darauf kam die Liquidation der OVS-­Filialen. Marco Meyer erlebte die Schliessung in Thun, Esther Meyer in Bern. «Es war schlicht zum Kotzen», sagt er. Überall Schmutz und Staub, weil OVS die Putzfirma nicht mehr bezahlte. Und überall Kleiderberge, weil die Kundschaft die Kleider achtlos auf den Boden warf. Einmal sei ein Kind mit dem Trottinett einfach über die Kleider am Boden gefahren, sagt Esther Meyer: «Als meine Kollegin dem Kind sagte, es solle aufhören, beschimpfte der Vater sie als Schlampe.»

Und dann der Brief: Eine Woche nach dem Aus erhielten die Meyers ein Schreiben aus der Chefetage. Darin stand: «Ein riesiges Dankeschön für Ihren grossen Einsatz.» Und: Angesichts der Umstände habe man «das Bestmögliche für alle erreicht. Es hat sich gelohnt.» Als Marco Meyer diese Passage auf seinem Balkon nochmals liest, platzt ihm der Kragen: «Wahrscheinlich haben die Chefs nachher nach Italien telefoniert und gemeldet: Es hat sich gelohnt, wir konnten die Angestellten in der Schweiz verarschen, sie haben’s geschluckt.»

DER BEFREIUNGSSCHLAG

Ohnmacht, Demütigung, Wut. Anfang Juli beschliesst Marco Meyer, nach Venedig zu fahren. Zum Hauptsitz von OVS. Zusammen mit 50 anderen Entlassenen. Und mit der Unia. Sie stehen da mit wehenden Fahnen, und sie tragen Masken. Mit dem Konterfei des obersten OVS-Bosses Stefano Beraldo. Meyer packt das Megaphon. Das italienische Fernsehen ist auch da. Er ruft: «Du bist kein CEO, du bist ein Gangster, Beraldo!» Die anderen Verkäuferinnen und Verkäufer klatschen. Und sie skandieren: «Beraldo, Sozialplan jetzt!» Der Himmel ist blau. Die Stimmung ist gut. Es ist wie ein Befreiungsschlag.

Jetzt, wo Marco Meyer alles Revue passieren lässt, kommt ein Lächeln in sein Gesicht. «Das hat mir gutgetan», sagt er. Warum aber hatten sich die Verkäuferinnen und Verkäufer nicht früher gewehrt? Warum haben sie sich auch dann noch ­alles gefallen lassen, als die Schliessung bereits feststand? Warum sind sie bei der schikanösen Liquidation nicht einfach davongelaufen? So, wie es ­Beraldo längst getan hatte? Esther Meyer sagt: «Die meisten hatten Angst, bis zum bitteren Ende.» Er: «Auch als die Alliierten nur noch zweihundert ­Meter vom Hitler-Bunker entfernt waren, taten viele immer noch, was man ihnen befahl.» Ist dieser Vergleich nicht etwas krass? «Schon», sagt Meyer, «aber es ist doch so, oder?»

* Vorname von der Redaktion geändert

Sozialplan: OVS drückt sich

Für Anne Rubin, Detailhandelsexpertin der Unia, ist klar: «Der Modegigant OVS versteckt sich
hinter dem Konkurs der Schweizer Tochter­gesellschaft Sempione Fashion.» Dabei hätte das italienische Mutterhaus, «die Drahtzieherin des ganzen Debakels», durchaus die Mittel, um die entlassenen Angestellten zu entschädigen. Die Unia fordert weiterhin einen Sozialplan mit Abgangsent­schädigungen, abgestuft nach Alter, Dienstjahren und Familiensituation. Der Konkurs hat auch Folgen im Ausland: Die Tochter­gesellschaft Charles Vögele in Österreich musste ebenfalls Insolvenz anmelden und steht vor dem Aus. Betroffen sind 700 Mitarbeitende in Österreich sowie knapp 300 in Ungarn und Slowenien. Die Ableger in Deutschland und den Niederlanden hat OVS bereits verkauft. Rund 150 Beschäftigte verloren dort die Stelle.

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