Gleichstellungsgesetz: Ärztin Natalie Urwyler hat sich durchgesetzt
Ein Sieg für die Frauen

Sie war Oberärztin am Insel­spital in Bern. Dann wurde Natalie Urwyler (44) Mutter. Und bekam die Kündigung. Jetzt hat sie ihre Wieder­einstellung erstritten.

DER TOCHTER ZULIEBE: Ärztin Natalie Urwyler verlor ihren Job, ihre Karriere und ihren guten Ruf. Für ihr kleines Mädchen würde sie trotzdem nochmals vor Gericht gehen. (Foto: Olivier Lovey)

Ihr erstes Kind verlor Natalie Urwyler während der Arbeit. Sie überwachte einen Patienten im Opera­tionssaal. Niemand war da, der sie ablösen konnte. Also arbeitete sie weiter. In dieser Nacht. Und in den drei folgenden Nächten auch. In der Klinik kursierte der Spruch, dass «man die Nachtschicht nur dann nicht antritt, wenn man zur eigenen Beerdigung muss».

Das war 2013. Natalie Urwyler war damals Oberärztin. Angestellt im Berner Inselspital. Sie arbeitete in der Klinik für Anästhesiologie und Schmerztherapie, lehrte an der Universität, forschte, war angehende Professorin. Dann wurde sie zum zweiten Mal schwanger, brachte eine gesunde Tochter zur Welt. Urwyler beantragte, ihr Pensum auf 80 Prozent zu reduzieren. Die Insel lehnte ab. Aus der Forschungs- und Lehrtätigkeit wurde Urwyler aber gestrichen. Die Ärztin wusste: Wenn das passiert, wäre ihre Karriere zu Ende. Nur, weil sie jetzt Mutter war.

EINSCHÜCHTERUNG

Also legte Urwyler Beschwerde ein. Nach fünf Monaten Funkstille bekam sie die Kündigung. Die Ärztin zog vor Gericht und berief sich auf das Gleichstellungsgesetz. Das besagt: Solange eine Beschwerde wegen Diskriminierung hängig ist, darf der Betroffenen nicht gekündigt werden. Damit machte sich Urwyler mächtige Feinde. Nach der Ent­lassung war es schwierig, eine neue Stelle zu finden. Bei einem Vorstellungs­gespräch erfuhr Urwyler: Man sei vor ihr gewarnt worden.

Ein Walliser Kantonsspital stellte sie schliesslich ein. Als Assistenzärztin. Mit einem Einkommen, das zwei Drittel tiefer ist als vorher. Urwyler: «Sie haben es geschafft, dass mich niemand mehr als Oberärztin in der Anästhesie einstellt. Ich musste noch einmal in einem anderen Fachgebiet von vorne anfangen.» Einschüchtern liess sie sich trotzdem nicht. An ihrer Klage hielt sie fest. Denn: «Es geht hier nicht nur um mich. Sondern darum, dass Frauen und Männer noch immer nicht gleichgestellt sind.»

FEHLENDER MUTTERSCHUTZ

Zu Beginn ihrer Laufbahn dachte Natalie Urwyler da noch anders. Sie glaubte: Wer sich genug hineinkniet, der wird belohnt – unabhängig vom Geschlecht. Heute weiss sie: «Die Ungleichheit ist da. Man sieht sie beim Lohn. Und man sieht sie in den Chefetagen.»

«Wenn eine Frau Mutter wird, landet sie auf dem Abstellgleis.»

Im Inselspital beträgt der Frauenanteil in den obersten und oberen Kadern nur 10 Prozent. In der ganzen Schweiz waren 2017 nur gerade 12 Prozent aller Chefarztposten mit Frauen besetzt. Die Machtpositionen sind meist in Männerhand. Und das, obwohl schon längst mehr Frauen Medizin studieren als Männer. Daran stört sich Urwyler. Sie sagt: «Wenn eine Frau Mutter wird, landet sie eben auf dem Abstellgleis.»

Auch beim Thema Mutterschutz kam es im Inselspital zum Konflikt. Urwyler prangerte an, was schon lange ein offenes Geheimnis war: dass der Mutterschutz oft ignoriert werde – und damit gegen das Gesetz verstosse. So seien Schwangere bis zu sieben Mal nacheinander zum Nachtdienst eingeteilt worden. Die gesetzliche Arbeitszeit von 45 Stunden sei überschritten ­worden, und die nötigen Ruhezeiten hätten oft gefehlt. Das belegt auch eine wissenschaft­liche Studie aus dem Jahr 2014. Fazit: Bei drei Vierteln der Schwangeren wurde der Dienstplan nicht angepasst, 85 Prozent hatten keine oder nicht genug Pausen, und ein Viertel wurde zu wenig vor gesundheitsschädigenden Einflüssen geschützt.

SIEG VOR GERICHT

Immerhin: Natalie Urwylers Klage und die Öffentlichkeit, die entstanden ist, hat im Inselspital offenbar doch noch für Bewegung gesorgt. Mittlerweile ist eine leitende Oberärztin mit der Stärkung des Mutterschutzes betraut. Und auch juristisch gibt es einen Erfolg: Das Berner Obergericht hat diesen Sommer, nach vier zermürbenden Jahren, entschieden: Urwyler wurde missbräuchlich entlassen. Jetzt muss der Insel-Konzern einen Lohnausfall von 465’000 Franken bezahlen – und die Ärztin wieder einstellen, eine Spezialität des Gleichstellungsgesetzes. Das ist wegweisend (siehe Box). Trotzdem ist Urwyler noch immer im Wallis. Denn: Die Insel hat das Urteil zwar anerkannt, aber die Ärztin umgehend wieder freigestellt. Sie wird wohl nie mehr an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren können.

Trotzdem: Natalie Urwyler sagt, sie würde alles noch einmal genau so machen. Für ihre kleine Tochter, für die sie sich wünscht, dass sie später aufgrund ihrer Leistung beurteilt werde und nicht wegen ihres Geschlechts. Und für all die anderen Frauen, die dasselbe erleben wie sie. Für sie hat Urwylers Klage einen Grundstein gelegt.

Fall Urwyler: Wegweisendes Urteil

Natalie Urwylers Sieg ist ein Durchbruch. Sie hat es geschafft, eine sogenannte
Rachekündigung geltend zu machen. Also eine Kündigung, die verhängt wurde, weil sich die Betroffene gegen Diskriminierung gewehrt hat. Das verstösst gegen das Gleichstellungsgesetz.
Die Gerichte haben Urwyler in zwei Instanzen recht gegeben. Das ist das bisher höchste Urteil, und es wird die künftige Rechtsprechung beeinflussen.

UNWISSENDE RICHTER. Urwyler ist erst die zweite Frau, die erfolgreich gegen eine
Rachekündigung gekämpft hat. 23 Jahre nach Inkrafttreten des Gleichstellungs­gesetzes! Der Grund: Die Hürden für eine Klage sind hoch, der Erfolg oft bescheiden. Auch deshalb, weil die Gerichte das Gleichstellungsgesetz zu wenig kennen. Das hat Arbeitsrechtlerin Karine Lempen von der Universität Genf herausgefunden (work berichtete: rebrand.ly/gleich­stellungsgesetz). Prozesse wie der von­ Natalie Urwyler können da etwas bewirken.

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