Andreas Rieger
Für die Arbeitgeber scheint die Zeit für Lohnerhöhungen nie gut genug. Läuft die Wirtschaft schlecht, sollen die Lohnabhängigen warten. Gar Lohnsenkungen erwartet man von ihnen. Läuft dagegen die Wirtschaft heiss, gelten Lohnerhöhungen als schlecht, weil sie die Inflation anheizen würden. Seit zwei Jahren erleben wir einen Ausnahmezustand: Nachdem die EU-Spitze und die Zunft der Ökonomen jahrelang Lohnstillstand oder gar Abbau verlangt haben, rufen sie nun nach Lohnerhöhungen. Denn der Aufschwung soll durch verstärkte Konsumkraft festen Boden bekommen.
Bloss: trotz diesen erfreulichen Signalen gehen die Reallöhne bei der Mehrheit der Lohnabhängigen nicht rauf. Verwundert fragen sich die Ökonomen in Europa, warum zum Beispiel in Spanien die Löhne stagnieren. Dies trotz sinkender Arbeitslosigkeit und kräftig wachsender Wirtschaft. Die Globalisierung sei schuld, sagen die einen, das Problem sei die technologische Revolution, sagen die anderen. Für die dritten sind die Lohnabhängigen selbst verantwortlich: sie hätten sich an stagnierende Löhne gewöhnt und forderten keine Lohnerhöhungen mehr.
Arbeitgeber müssen zu Lohnerhöhungen gezwungen werden.
WER IST SCHULD? Nüchtern betrachtet ist klar: Lohnerhöhungen müssen die Arbeitergeber beschliessen und das tun sie bisher kaum. Weil sie nicht dazu gezwungen werden. Auch nicht vom Arbeitsmarkt. Dazu erklärt die NZZ: Die Arbeitslosenstatistik sei «irreführend». Viele Leute hätten nur befristete Stellen und kleine Arbeitspensen, sie würden aber als beschäftigt gelten. Der Druck des Arbeitsmarkts auf die Arbeitgeber ist also noch zu klein. Und der Druck der Gewerkschaften? Beinahe etwas enttäuscht schreibt die Credit Suisse: «Ihre Verhandlungsmacht ist geschwächt.» Und plötzlich erkennt der Internationale Währungsfonds: «Die Deregulierung des Arbeitsmarktes ist einer der Gründe des sinkenden Lohnanteils.» Die Gewerkschaften wissen also, was sie zu tun haben: ihre Verhandlungsmacht wieder aufbauen und Gesamtarbeitsverträge mit guten Löhnen erkämpfen.
PS. Lohnerhöhungen sind übrigens möglich: Osteuropa macht’s vor. In Rumänien, Bulgarien und im Baltikum wachsen die Reallöhne stark, 5 Prozent und mehr pro Jahr. Wegen der Abwanderung der Leute in den Westen gibt es hier grossen Fachkräftemangel. Und die Gewerkschaften gehen mit Erfolg auf die Strasse.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.