Als erster Kanton hat Neuenburg einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt. Auch im Jura und im Tessin soll es jetzt vorwärtsgehen.
Neuenburger Spezialitäten: Der Neuenburgersee (im Hintergrund die Alpen) und der erste kantonale Mindestlohn. (Fotos: Keystone (2); Montage: work / TNT Graphics)
Plötzlich ging alles sehr schnell: Ab sofort darf es im Kanton Neuenburg keinen Stundenlohn mehr unter 20 Franken geben. Oder bei einer Vollzeitstelle keinen Monatslohn unter 3600 Franken. Und dies, weniger als vier Wochen nachdem das Bundesgericht grünes Licht dafür gegeben hat (work berichtete). Damit ist Neuenburg der erste Kanton mit einem gesetzlichen Mindestlohn.
ARBEITGEBER TRÖTZELTEN
Bis es so weit war, hat es allerdings gedauert: Schon 2011 hatten die Neuenburger Stimmberechtigten einem gesetzlichen Mindestlohn zugestimmt. Als sich das Kantonsparlament drei Jahre später über seine Höhe einigen konnte, probten mehrere Unternehmerverbände den Aufstand. Sie zogen bis vor Bundesgericht. Ihr Argument: Der Mindestlohn sei eine wirtschaftspolitische Massnahme und liege nicht in der Kompetenz der Kantone. Ausserdem würde damit das Gebot der Wirtschaftsfreiheit verletzt.
Die Richter in Lausanne sahen das anders. Am 4. August hielt das Bundesgericht fest: Wer Vollzeit arbeitet, soll einen Lohn erhalten, der zum Leben reicht. Mit einem Stundenlohn von weniger als 20 Franken sei das nicht gegeben. So müssen besonders prekär Beschäftigte – trotz Vollzeitstelle – oftmals Sozialhilfe beziehen.
Deshalb kam das Bundesgericht zum Schluss: Der Neuenburger Mindestlohn ist kein wirtschaftspolitisches Mittel, sondern eines gegen Armut und für ein würdiges Leben.
OHNE DIE LANDWIRTSCHAFT
Mit diesem Entscheid haben die Patrons nun definitiv verloren. Zum Glück für die bis zu 3000 Beschäftigten in Neuenburg, die vom neuen Mindestlohn profitieren. Zwei Drittel von ihnen sind Frauen. Sie bekommen ab sofort mehr Lohn. Doch wer sind sie? Etwa Beschäftigte in der privaten Pflege, in der Kosmetikbranche, in Fitnessstudios und nichtqualifizierte Coiffeurangestellte, sagt die Unia-Regiochefin Catherine Laubscher: «Für diese Leute sind 100 bis 300 Franken mehr Lohn im Monat viel Geld.»
Für einige genug, um nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Das freut Laubscher besonders. Sie sagt: «Mit den bisherigen Tieflöhnen haben die Unternehmen nicht nur auf Kosten der Angestellten Profit gemacht, sondern auf Kosten aller. Der Staat musste für den fehlenden Lohn mit Sozialhilfe in die Bresche springen. Der Bundesgerichtsentscheid stellt jetzt klar: Das geht nicht.»
Trotz allem ist das Neuenburger Mindestlohngesetz ein Sieg mit Abstrichen. Denn das Gesetz schliesst Landwirtschaft und Weinbau aus. Zwei Branchen, in denen die Löhne besonders prekär sind. Ausserdem hatten die Gewerkschaften einen Stundenlohn von 22 Franken gefordert. Jetzt sind es nur 20 Franken. Unia-Frau Laubscher: «Die Revolution ist es nicht. Aber ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.»
TESSINER MACHEN DAMPF
Währenddessen warten der Jura und das Tessin weiter auf den Mindestlohn. Auch dort haben die Stimmberechtigten 2013 und 2015 entsprechende Initiativen angenommen.
Im Jura hat die Wirtschaftskommission diesen Sommer die Umsetzung zuhanden des Parlaments ausgearbeitet. Unia-Regiochef Pierluigi Fedele erklärt: «Die Kommission ging branchenweise vor und legte zum Teil sehr tiefe Löhne von nur 3000 Franken fest.» Für Fedele ist das klar zu wenig. Deshalb kommt der Bundesgerichtsentscheid für ihn gerade rechtzeitig. Fedele: «Wir wollen im Jura mindestens so viel wie die Neuenburger!»
Vorwärtsgehen soll es jetzt auch im Tessin. Und zwar schnell, fordert Regiochef Enrico Borelli: «Die Lohnsituation im Tessin ist dramatisch.» Bis zu 12’000 Beschäftigte würden dort laut Borelli von einem gesetzlichen Mindestlohn profitieren, sollte er so hoch sein wie in Neuenburg. Vorwiegend in der Industrie und in Dienstleistungsberufen wie dem Detailhandel und der Gastronomie.
Einfach wird es in der Sonnenstube der Schweiz aber nicht. Denn anders als in Neuenburg soll das neue Gesetz nicht für alle gelten. Sondern nur für jene Beschäftigten, die keinem Normal- oder Gesamtarbeitsvertrag unterstehen. Das heisst: Für Angestellte im Verkauf, deren Stundenlohn heute im Minimum 17 Franken 30 beträgt, wird sich die Situation mit dem Mindestlohngesetz nicht sofort bessern. Sondern erst dann, wenn die geltenden Verträge angepasst werden.
Noch muss aber geklärt werden, wie hoch der Tessiner Mindestlohn überhaupt sein soll. Klar ist für Unia- Gewerkschafter Borelli aber bereits jetzt: «Unter 21 Franken geht es nicht.» Unia und Grüne haben den Tessiner Politikern deshalb bereits signalisiert: Wird ein tieferer Ansatz beschlossen, kommt es zum Referendum oder einer neuen Initiative.
Eines lässt Gewerkschafter Borelli währenddessen kalt: die Drohungen der Unternehmen. So hat etwa die Luxusmarke Gucci, die ihre Ware in Mendrisio nähen lässt, bereits ihren Wegzug angekündigt, sollte der Mindestlohn kommen. «Sollen sie doch gehen», sagt Borelli: «Wir wollen zwar Jobs. Aber nicht solche, die Armut schaffen.»