Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.
Post vom Betreibungsamt ist unangenehme Post. Die Briefträgerin stellt lieber Liebesbriefe zu und am allerliebsten die von Kinderhand adressierten Briefe mit farbigen, unförmigen, verkehrt gemalten Buchstaben.
Betreibungsurkunden werden offen zugestellt. Am Anfang ihrer Postlaufbahn fragte die Briefträgerin an vorgesetzter Stelle, ob dies unter dem Gesichtspunkt des Datenschutzes überhaupt zulässig sei. Das sei es wohl, vermutete die vorgesetzte Stelle. Zweck der offenen Zustellung sei es, den Empfängerinnen und Empfängern die Bedeutung der Sendung klarzumachen, und vielleicht auch, sie zu blamieren. Wobei Briefträgerinnen und Briefträger eine gewisse Diskretion einhalten sollten. Trotzdem verkünden einige bereits an der Gegensprechanlage: «Die Post. Ich habe eine Betreibungsurkunde für Sie!»
Betreibungsurkunden dürfen seit einiger Zeit nur noch an Familienmitglieder (ab zwölf Jahren) und an Konkubinatspartnerinnen und -partner ausgehändigt werden. Nicht aber an andere Mitbewohnerinnen. Also fragte die Briefträgerin wieder die vorgesetzte Stelle an: «Muss ich im Zweifelsfall fragen, ob Empfänger und Adressatin miteinander ins Bett gehen?» Der vorgesetzten Stelle ist dieser Punkt auch unangenehm. Sie frage jeweils, ob es sich um den Partner, die Partnerin handle.
«Muss ich fragen, ob sie zusammen ins Bett gehen?»
MEDAILLE. Für manche ist der Erhalt von Betreibungsurkunden anscheinend nicht unangenehm. Sie nehmen das Papier entgegen, als erhielten sie eine erfreuliche Nachricht. Gar mit der Pose des Helden, der eine Medaille erhält. Manche bedanken sich ausdrücklich. Andere beteuern, sie hätten längst bezahlt, selten wird Rechtsvorschlag erhoben. Manchmal weint jemand.
Die Briefträgerin denkt dann immer: Ihr müsst euch nicht rechtfertigen! Ich vertrage viele Betreibungsurkunden, ich kenne die Hintergründe und die Geschichten nicht und brauche sie auch nicht zu kennen. Wenn ich Zeit hätte, würde ich zuhören, was die Leute manchmal erzählen möchten, aber ich habe keine Zeit, und die Leute wissen das inzwischen, und die meisten haben sich das Erzählen abgewöhnt.
IM ERNST. Obwohl – was schlug kürzlich ein Human-Resources-Mann der Post anlässlich eines allgemeinen Geplauders über den Arbeitsalltag vor: «Das könnte ein neues gelbes Produkt sein: ‹Sind Sie einsam? Haben Sie Sorgen? –Wir hören Ihnen zu!› Gegen Rechnung, versteht sich.» Die Briefträgerin sagte: «Das ist nicht dein Ernst, oder?» Und er: «Doch, warum nicht? Man muss mit der Zeit gehen.»
Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern, Gewerkschafterin – und neu: auch work-Kolumnistin.