Sinkt die Arbeitslosigkeit, steigen in der Regel die Löhne. Denn Gewerkschaften, aber auch einzelne Arbeitnehmende haben einen grösseren Spielraum, gute Löhne auszuhandeln, wenn das Angebot an Beschäftigten knapp wird und die Nachfrage der Unternehmen steigt. Umgekehrt sieht es aus, wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt. Der Druck auf die Arbeitnehmenden wird grösser, und die Firmen können ihre Lohnvorstellungen eher durchsetzen. Vollbeschäftigung ist deshalb nicht nur im Interesse der Arbeitslosen, sondern der Arbeitnehmenden insgesamt. Dagegen ist Arbeitslosigkeit für Firmen ein willkommenes Mittel, die Lohnkosten tief und Profite hoch zu halten.
(Quelle: OECD Employment Outlook 2018, S. 30)
FOLGE DER KRISE. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnwachstum spielt heute nicht mehr gleich stark wie noch vor der Finanzkrise. In den reichen OECD-Ländern (dazu gehört auch die Schweiz), den meisten EU-Ländern, den USA und Japan lag die durchschnittliche Arbeitslosigkeit 2017 bei 5,9 Prozent. Vor der Krise 2006 bei 6,3 Prozent. Trotzdem wuchsen die (nominellen) Löhne 2006 mit 4,8 Prozent stärker als 2017 mit 3 Prozent. Eine wichtige Ursache für diese Entwicklung ist eine Machtverschiebung weg von den Arbeitnehmenden hin zu den Firmen und Kapitalbesitzenden. Arbeitnehmende haben heute weniger Spielraum, bei tiefer Arbeitslosigkeit höhere Löhne auszuhandeln, als noch vor der Krise.
MEHR GAV. Zu dieser Machtverschiebung kam es, weil Gewerkschaften Mitglieder verloren und die Firmen Gesamtarbeitsverträge (GAV) angriffen und bürgerliche Politikerinnen und Politiker Arbeitslosenversicherungen abbauten. Zudem hat nach der Krise die unfreiwillige Teilzeitarbeit zugenommen. Auch das schwächt die Verhandlungsmacht der Beschäftigten. Das Kräfteverhältnis hat sich aber nicht in allen OECD-Ländern verschoben. Auch in der Schweiz ist es weitgehend stabil geblieben. Hierzulande nahm die unfreiwillige Teilzeit weniger stark zu als anderswo, und der Arbeitnehmendenschutz wurde erfolgreich verteidigt. Die Schweiz gehört zu den wenigen Ländern, wo heute mehr Arbeitnehmende durch einen GAV geschützt sind als noch vor 10 Jahren. Möglich gemacht haben das die flankierenden Massnahmen und Arbeitnehmende, die wie zuletzt auf dem Bau mit ihren Gewerkschaften erfolgreich für gute Löhne kämpften.
David Gallusser ist Ökonom und Unia-Mitglied.