Hirslanden-Informatiker Marc Schori * hat über 100 Überstunden. Abbauen geht nicht. Weil er immer wieder nachts arbeiten muss.
24-Stunden-TAG: Nachtarbeit und Pikettdienst sind für Computerfachleute heutzutage der Normalfall. (Foto: iStock, Symbolbild)
Dreissig Minuten. So viel Zeit hat Marc Schori, um zu reagieren. Egal, ob er gerade isst, schläft oder joggt. 30 Minuten nachdem ihn die Firma aufbietet, muss er an der Arbeit sein. So sind die Regeln, wenn er Pikett hat.
Schori arbeitet als Informatiker bei den Hirslanden-Privatspitälern. Etwa alle vier Wochen trifft’s ihn fürs Pikett, jeweils eine Woche lang. Und es passiert eigentlich immer etwas, sagt er: «Manchmal ist es nur ein Einsatz in der Woche, manchmal sind es sieben.» Tagsüber muss er trotzdem fast normal arbeiten. War er in der Nacht drei Stunden lang wach, um irgendein System zu reparieren, kommt er am nächsten Morgen höchstens eine Stunde später zur Arbeit. Mehr liege nicht drin: «Dafür sind wir zu wenig Leute.» Die Folge: Seine Überstunden häufen sich. Wer 30 Stunden auf dem Konto hat, bekommt ein Mail von der Personalabteilung, doch bitte abzubauen. Das würde Schori gern. Aber die Nachteinsätze summieren sich: «Ich bin jetzt bei weit über hundert Überstunden. Letzten Sommer schaffte ich es mal unter hundert, aber es geht schnell wieder hoch.»
«Ich habe bis zu sieben
Piketteinsätze pro Woche.»
Dazu kommt: Auch ohne Pikett fällt immer wieder Nachtarbeit an. Im Spital werden einige Systeme bis 22 Uhr gebraucht, andere sogar bis ein Uhr morgens. Wartungen und Updates können Schori und seine Kolleginnen und Kollegen erst danach machen. Dafür habe er auch Verständnis, sagt er. Ein Spital sei nun mal ein 24-Stunden-Betrieb. Aber die Informatikabteilung bei Hirslanden sei so klein, dass die Einzelnen viel zu oft in den sauren Apfel beissen müssten.
Hirslanden schreibt, man halte sich an die gesetzlichen Regelungen. Sprecher Claude Kaufmann verspricht aber: «Wir werden die Pikettpläne auf personelle Engpässe hin überprüfen.»
DIE AUSNAHME WIRD ZUR NORM
Nachtarbeit ist für Computerfachleute heutzutage der Normalfall. Auch für den Informatiker Marcel Herren*, der für ein grosses Schweizer Telecomunternehmen arbeitet. Er sagt: «Es gibt heute in der Branche kein Stelleninserat, bei dem nicht auch die Bereitschaft für Pikettdienste gefordert wäre.» Ähnlich klingt es bei Lukas Fischer *, ebenfalls bei einer Telecomfirma tätig: «Wenn im Pikett das Telefon klingelt, arbeite ich, egal zu welcher Zeit. Das ist nicht immer lässig, gehört aber dazu.» Herrens Telecomfirma ist aber offensichtlich besser organisiert als die Hirslanden-Gruppe. Er hat nur alle zwei Monate Pikettdienst, und wenn er einen Einsatz hat, kann er die Stunden umgehend kompensieren. Geplante Nachtarbeiten muss er nicht übernehmen: «Das machen Kollegen, die dafür kein Pikett leisten.»
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) gibt auf Anfrage an, dass es pro Jahr «etwa 250» Bewilligungen für regelmässige Nacht- und Sonntagsarbeit in der Informatik erteile. Das sind rund ein Zehntel aller Bewilligungen. Und Nachtarbeit ist im Vormarsch (siehe Text unten).
KEIN PRIVATLEBEN MEHR MÖGLICH
Hirslanden-Informatiker Marc Schori sagt, dass sein Privatleben und sein Freizeitprogramm oft unter den Nachteinsätzen litten. Auch weil diese die Mitarbeitenden oft unvorbereitet träfen. Selbst wenn es keine «Notfälle» seien: «Wir erfahren meist nur einen Tag vorher oder am gleichen Tag, dass wir in der Nacht arbeiten müssen.»
Nachtarbeit schadet der Gesundheit – dennoch wird sie immer häufiger bewilligt Immer mehr müssen in der Nacht arbeiten
Nachtarbeit ist ungesund. Trotzdem will sie die rechte Mehrheit im Parlament ausweiten.
In der Schweiz arbeiten 573’000 Menschen regelmässig oder zumindest manchmal nach Mitternacht. Ein Teil davon arbeiten in Spitälern, Bars oder Bäckereien: Diese brauchen für Nachtarbeit nicht einmal eine Bewilligung. Darüber hinaus erteilen die Behörden immer mehr Betrieben grünes Licht für Nachtarbeit. Die Bewilligungen des Seco für dauernde Nacht- und Sonntagsarbeit sind seit 2008 von 1700 auf 2400 angestiegen. Noch höher sind die Zahlen bei den kantonalen Bewilligungen. Die braucht’s für vorübergehende Nacht- und Sonntagsarbeit. Und sie haben sich mehr als verdoppelt, von 5500 auf fast 13’000.
Nachtarbeit kann Krebs verursachen.
GEFÄHRLICH. Dabei ist schon längst klar: Nachtarbeit schadet der Gesundheit. Betroffene leiden oft an Schlafproblemen, Magen-Darm-Krankheiten oder Übergewicht. Zudem steigt ihr Risiko für Depressionen. Studien zeigen sogar, dass Frauen, die jahrelang nachts arbeiten, häufiger an Brustkrebs erkranken. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft Nachtarbeit deshalb als «wahrscheinlich krebserregend» ein.
Trotzdem will die rechte Mehrheit im Parlament den Schutz vor Nachtarbeit weiter abschwächen. Firmen sollen den Beginn des Arbeitstags neu auf 4 Uhr morgens festlegen dürfen. Und die minimale gesetzliche Ruhezeit soll mehrmals pro Woche nur noch neun Stunden betragen. So steht’s im Entwurf zur Revision des Arbeitsgesetzes, den die Wirtschaftskommission des Ständerats im Herbst in die Vernehmlassung schickte.
SCHUTZ. Die Gewerkschaften haben bereits das Referendum angekündigt, sollte das Parlament die Vorlage so verabschieden. Und erhalten von vielen Seiten Unterstützung: Patientenorganisationen wiesen darauf hin, dass übermüdete Ärztinnen und Ärzte mehr Fehler machen. Und der Verband der kantonalen Arbeitsmarktbehörden warnte in deutlichen Worten vor der Vorlage: Sie widerspreche dem Ziel des Arbeitsgesetzes, die Gesundheit der Arbeitnehmenden zu schützen.