Jean Ziegler
Wie in fast allen Schweizer Städten sind auch in Genf die Zahnarzttarife horrend. In das benachbarte Frankreich auszuweichen nützt nichts. Bis hinunter nach Lyon haben sich die Zahnärzte dem schweizerischen Tarifkartell angeschlossen. Fast ein Sechstel der Bevölkerung der Republik Genf kann sich keine Zahnbehandlung mehr leisten.
Die Partei der Arbeit, die Sozialisten und die Gewerkschaften hatten daher eine kantonale Initiative lanciert. Ihr Ziel: die Schaffung einer öffentlichen Zahnarztversicherung. Am 10. Februar verwarf das Genfer Stimmvolk mit einem Mehr von 54,2 Prozent die Initiative. Die Genfer Zahnarztvereinigung hatte viele Millionen Franken investiert. Autobusse, Trams und Plakatwände waren zugekleistert mit so absurden Sprüchen wie: «Diese Versicherung zerstört die Qualität der Zahnmedizin».
Im Propagandagewitter. Die Entfremdung der abhängigen sozialen Klassen ist der grösste Sieg der herrschenden kapitalistischen Oligarchien. Entfremdung bedeutet: sich selber fremd werden. Die Menschen stimmen frei und unabhängig gegen ihre eigenen Interessen. Die Schweizerinnen und Schweizer sind ein politisch hochgebildetes Volk. Aber im Propagandagewitter der Oligarchie werden sie regelmässig zu entfremdeten Lakaiinnen und Lakaien.
Nehmen wir die eidgenössischen Abstimmungen der letzten Jahre. Das Volk hat geheim und freiwillig gegen die Einführung eines Mindestlohns, gegen die Erhöhung der AHV-Renten, gegen eine öffentliche Krankenversicherung, gegen die Begrenzung der Managerlöhne und gegen die Einführung einer zusätzlichen Ferienwoche gestimmt. Wer die Massenmedien beherrscht, beherrscht das Kollektivbewusstsein.
«Man kann die politische Macht nicht übernehmen, ohne zuvor die kulturelle Macht erobert zu haben.»
DIREKTE DEMOKRATIE. Seit November letzten Jahres gehen in Frankreich jeden Samstag Zehntausende aufgebrachter Menschen auf die Strasse, um gegen die Ausbeutung und die himmelschreiende Ungleichheit zu protestieren. Eine ihrer zentralen Forderungen heisst «référendum d’initiative citoyenne» (RIC). Für die Gelbwesten ist die Schweiz ein Vorbild.
Und es stimmt: Die Instrumente der direkten Demokratie – Referendum und Volksinitiative – sind eine Errungenschaft der Zivilisation. Heute ist überall auf der Welt die von Jean-Jacques Rousseau 1762 in seinem Werk «Der Gesellschaftsvertrag» konzipierte repräsentative Demokratie am Ende. Die Gelbwesten vertrauen weder ihren Abgeordneten, welcher Partei auch immer, noch ihrem Präsidenten Emmanuel Macron. Sie wollen die sofortige Einführung der direkten Demokratie.
Schweizerinnen und Schweizer sind dieser Tage häufig eingeladene Gäste bei den Versammlungen der Gelbwesten. Auch ich tue in Nizza, Toulouse oder Grenoble mein Mögliches, um die eidgenössischen Institutionen zu erklären. Aber ich dämpfe auch den Enthusiasmus der Aufständischen.
Antonio Gramsci war ein kluger Philosoph, ein unabhängiger Geist und ein unbeugsamer Revolutionär. Im faschistischen Kerker schrieb er 1936: «Man kann die politische Macht nicht übernehmen, ohne zuvor die kulturelle Macht erobert zu haben.»
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor.
Eine Bedingung einer funktionierenden Demokratie ist, dass die Finanzierung der Abstimmungen und Wahlen geregelt und transparent ist, so dass tatsächlich das Prinzip „one man, one vote“ gilt. Im Gegensatz zu den meisten westlichen Demokratien gibt es in der Schweiz kaum Regelungen, wer wie viel Geld in den Wahl- bzw. Abstimmungskampf stecken darf und die bezahlten Beträge müssen auch nicht publik gemacht werden. Die Transparenzinitiative (https://transparenz-ja.ch) ist ein erster Schritt zur Verbesserung dieser Missstände.