Kaum zu glauben, aber Angestellte Schweiz bezeichnet sich als Arbeitnehmerverband.
Rund um die Uhr verfügbar: 15 Stunden soll der «tägliche Arbeitszeitraum» gemäss dem Vorstoss der Deregulierer umfassen. (Foto: Fotolia)
60 Stunden pro Woche, das sind fünfmal ein Zwölf-Stunden-Tag. Oder täglich zehn Stunden von Montag bis und mit Samstag. Das soll künftig «zeitlich beschränkt» erlaubt sein, und zwar für alle Arbeitnehmenden, die ihre Arbeitszeit mehrheitlich frei bestimmen können. Für sie soll auch die Zeit für Schlaf und Familie auf nur noch neun Stunden pro Nacht verkürzt werden, so dass der «tägliche Arbeitszeitraum » 15 Stunden beträgt.
Diese Forderungen kommen nicht etwa von einem Arbeitgeberverband. Auch nicht von irgendeinem neoliberalen Think- Tank. Aufgestellt hat sie Ende August vielmehr eine «Plattform» aus vier Arbeitnehmerverbänden, darunter auch KV Schweiz und Angestellte Schweiz.
Wie kommt ein Verband, der die Angestellten sogar in seinem Namen trägt, dazu, solche Forderungen aufzustellen? Unia-Industriechef Corrado Pardini kann nur den Kopf schütteln: «Für eine Organisation der Arbeitnehmenden sollte doch die Gesundheit an erster Stelle stehen. Und sie sollte sich dafür einsetzen, dass die Freizeit als solche erhalten bleibt. Beides verletzen diese Verbände mit ihrer Forderung sträfl ich.»
«ANGESTELLTE», NICHT «ARBEITER»
Angestellte Schweiz hat nach eigenen Angaben rund 20 000 Mitglieder und bezeichnet sich als «Dachverband von Angestelltenvereinigungen in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM) sowie der Chemie/Pharma». Der Verband ist das Produkt mehrerer Fusionen von Angestelltenverbänden dieser beiden Branchen. Das Schlüsselwort ist «Angestellte», nicht «Arbeiter». Viele dieser Verbände entstanden vor knapp hundert Jahren, gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Sie waren von Anfang an ein Zusammenschluss des bessergestellten technischen und kaufmännischen Personals und des Kaders. Und sie blieben es, wie eine Statistik aus jüngerer Zeit belegt: 2003 erhob der damalige MEM-Angestelltenverband die Löhne seiner Mitglieder. Der Durchschnittslohn war bei knapp 7200 Franken. Davon können Büezer nur träumen.
Kreuzzug gegen Mindestlöhne
Es ist nicht das erste Mal, dass Angestellte Schweiz dafür plädiert, dass Arbeitnehmende den Firmen möglichst allzeit ver fügbar sein sollten: Schon während der Verhandlungen zum Gesamtarbeitsvertrag der MEM-Industrie 2013 wollte der Verband die Arbeitszeit auf den Samstag ausdehnen. Corrado Pardini, damals Leiter der Unia-Verhandlungsdelegation, erinnert sich mit Schmunzeln: «Mit diesem Ansinnen wurden sie sogar von Arbeitgebern gestoppt.»
JIHAD. Die Verhandlungen waren aber vor allem geprägt durch das Ringen um Mindestlöhne. Seit dem historischen «Friedensabkommen » von 1937 gab es den MEM-Vertrag bereits, aber immer ohne Mindestlöhne. Die Unia war entschlossen, dies endlich zu ändern. Die Arbeitgeber waren dagegen, und Angestellte Schweiz schlug sich auf die Seite der Arbeitgeber. Mit Vehemenz, wie Pardini berichtet: «Einen richtigen Jihad gegen Mindestlöhne haben sie geführt. Bei solchen ‹Freunden› braucht man keine Gegner.» Das Ende ist bekannt: Der Jihad schei terte, die Mindestlöhne kamen in den Vertrag. Zum ersten Mal seit 76 Jahren.
BUCHTIPP. Spannend wie ein Krimi: Wie die Unia 2013 den Poker um die MEM-Mindestlöhne gewann, hat work-Autor Oliver Fahrni im Buch «Heavy Metall» beschrieben. Seismo-Verlag, ca. Fr. 38.–.
NUN AUCH IM BAU AKTIV
Die 60-Stunden-Woche ist nicht das erste Mal, dass Angestellte Schweiz gegen die Interessen der Angestellten handelt. Schon 2013 nahmen sie eine arbeitnehmerfeindliche Position ein (siehe Text nebenan). Und diesen Sommer wurde der Verband plötzlich im Ausbaugewer be aktiv. Völlig überraschend gab er bekannt, er habe mit den Arbeitgebern einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für die Bodenleger ausgehandelt.
Bruna Campanello vom Sektor Gewerbe in der Unia kritisiert den Verband scharf: «Angestellte Schweiz hat null Ahnung von der Baubranche. Es würde mich nicht wundern, wenn die keinen einzigen Bodenleger unter ihren Mitgliedern haben. » Dazu kommt: Die Unia mit über 600 Bodenlegerinnen und Bodenlegern als Mitgliedern hat die Arbeitgeber der Branche mehrmals eingeladen, einen GAV auszuhandeln. Sie erhielt jedes Mal eine Abfuhr.
Angestellte Schweiz gibt work keine Auskunft darüber, wie viele Bodenleger sie unter ihren Mitgliedern haben. Sprecher Hansjörg Schmid schreibt nur: «Wir handeln mit unseren Positionen im Auftrag unserer Mitglieder.»
EIN LOHNDUMPING-GAV
Der neue GAV solle jetzt für die ganze Schweiz allgemeinverbindlich erklärt werden, so Angestellte Schweiz. Doch das sei «absurd», sagt Campanello. Denn in der Romandie, im Tessin und in Basel-Stadt gibt es bereits allgemeinverbindliche GAV für Bodenleger: «Diese sind zudem viel besser als dieser neue Pseudo-GAV.» Ein Beispiel: In der Romandie beträgt der Mindestlohn für einen Bodenleger frisch ab Lehre 4682 Franken. Laut dem neuen GAV soll der gleiche Bodenleger fast tausend Franken weniger bekommen, nämlich nur 3750 Franken. Für Bruna Campanello ist klar: «Das ist ein richtiger Lohndumping-GAV.»
Protestkartenaktion
Hände weg vom Arbeitsgesetz!
Die bürgerliche Mehrheit im Parlament greift das Arbeitsgesetz frontal an: keine Arbeitszeiterfassung mehr für einen grossen Teil der Arbeitnehmenden und keine Obergrenze der wöchentlichen Höchstarbeit (work berichtete). Besonders im Fokus: der Dienstleistungssektor. Dagegen organisiert die Unia jetzt einen Protestkartenversand ans Parlament. Ein entsprechender Flyer wird denmächst in den Betrieben und auf der Strasse verteilt. So können Sie mitmachen: