Jean Ziegler

Jean Ziegler

«Die europäische Flüchtlingspolitik ist eine grausame Flucht in die Welt der Taschenspielerei», schreibt Gieri Cavelty im «Sonntagsblick» (21. 4. 2019). Vor einem Monat hat die EU jegliche Seerettungsaktion für ertrinkende Flüchtlinge eingestellt. Eine Folge des massiven Drucks rechtsextremer Regierungen und Parteien.

Die EU beschränkt sich von jetzt an auf eine «Beobachtermission». Drohnen überwachen die Fluten und signalisieren der libyschen Küstenwache in Not geratene Schiffe.

Die EU-Betonköpfe wissen, dass Libyens Küstenwache Flüchtlingen nicht hilft.

ÜBER 2000 TOTE. Heute ist noch ein einziges privates Schiff aktiv, die «Alan Kurdi», die von der grossartigen deutschen Hilfsorganisation Sea-Eye betrieben wird. Es ist nach dem kleinen Jungen benannt, der Anfang September 2015 in der Ägäis tot an den Strand gespült wurde. Über 2000 Menschen sind auf ihrer Flucht vor Gewalt, Folter und Hunger seit Beginn dieses Jahres im Mittelmeer ertrunken. Seit der Jahrtausendwende starben über 45’000.

«Taschenspielerei» ist ein eleganter Ausdruck für Betrug. Die EU subventioniert mit Milliarden Euro die libysche Küstenwache. Diese Schnellboot-Mafia ist durchsetzt mit Komplizen verschiedener internationaler Verbrecherkartelle, die den Exodus der Gummiboote organisieren.

Die EU-Betonköpfe wissen genau, dass die Küstenwache keine humanitäre Hilfe an Flüchtlinge in Seenot leistet. Höchstens verschleppt sie die verzweifelten Menschen in die überfüllten Lager der libyschen Regierung oder in die Privatkerker der Schleppermafia. Die kluge Analyse von Gieri Cavelty kann nahtlos auf das östliche Mittelmeer übertragen werden. Auch dort praktiziert die EU ihre «grausame Taschenspielerei». 2016 schloss Brüssel mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ein Abkommen: Seine Regierung verpflichtet sich, alle Flüchtlinge zurückzunehmen, die aus der Türkei auf die griechischen Inseln in der Ägäis gekommen sind, aber kein Asyl erhalten. Dafür erhält sie 15 Milliarden Euro.

Auf den Inseln, den sogenannten Hotspots, prüfen allerdings nur vereinzelte EU-Beamte die Asylgesuche. In der Kaserne von Moria auf Lesbos sind seit 2016 Tausende von syrischen Familien unter unmenschlichen Bedingungen gefangen, ohne jegliche Hoffnung auf die Prüfung ihrer Gesuche. Erdoğan seinerseits hat die EU-Gelder für die Errichtung einer 850 Kilometer langen Befestigung an der türkisch-syrischen Grenze eingesetzt, die jede Flucht fortan verhindern soll.

BRÜSSELS STRATEGIE. Das nie offen genannte Ziel der europäischen Flüchtlingsstrategie heisst Abschreckung. Den Menschen, die vor Krieg und Hunger flüchten, soll durch die fürchterlichen Zustände in den Internierungslagern und den Hotspots der Wille zum Verlassen ihres Landes gebrochen werden. Aber wessen Kinder tagtäglich von Tod bedroht sind, der wird alles tun, um sie zu retten.

Ende dieses Monats sind Wahlen zum Euro­päischen Parlament. Es ist zu hoffen, dass die gegenwärtige schändliche EU-Exekutive im Abfalleimer der Geschichte verschwindet.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein jüngstes, in Deutsch erschienenes Buch heisst: «Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin».

1 Kommentare

  1. Regula Maltry 21. Mai 2019 um 17:08 Uhr

    Herr Jean Ziegler,
    ich bin eine ausgewanderte Zürcherin in Dänemark. Ihre Sache beeindruckt mich. Ich habe schon seit meinem 18. Lebensjahr für die gleichen Ideen gekämpft. Damals noch in der Schweiz, war ich mit dabei den ersten Ostermarsch gegen die Atombombe zu organisieren. Es könnte möglich sein, dass wir uns da getroffen haben. Unser Blatt, das ich mit-redigierte und schrieb, hiess ‚Oppositio – Lebendige Demokratie‘, mit weissem Druck auf schwarzer, halber A4-Seite.
    Jean, ich möchte ihre Bücher lesen und eventuel ins Dänische übersetzen Was sagen Sie dazu ?

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