Die Briefträgerin & die Namen

Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.

Ein Vormittag im Bus. «Den kenne ich», denkt die Briefträgerin und schaut in das Gesicht des stummen, allein sitzenden Fahrgasts mit der Weisswein­flasche in der Hand. «Rosenweg 21, zweiter Kasten von links – aber wie heisst er schon wieder?» Die Briefträgerin sieht den Hauszugang vor sich, die Kastenanlage, die Anordnung der Kästen. Sie weiss, dass er einen Stop-Kleber hat. Doch sein Name fällt ihr nicht ein. «Es ist der Mann, der selten Post bekommt und nie ein Wort redet.»

So wie mit ihm erging es ihr schon oft, doch gibt sie das ungern zu. Wer bekennt schon gern die eigene Vergesslichkeit. Kürzlich erst hatte sie einen ­halben Nachmittag an den beiden frommen Schwestern herumstudiert, die zusammen am Rainweg 14 wohnen. Sich an die Namen zu erinnern kam ihr als Gehirntraining nützlich vor. Auch hier sah sie den Kasten blindlings vor sich, erinnerte sich an die zahllosen Sendungen von wohltätigen Organisationen und Bibelstundevereinen, die sie dort deponierte. Doch die Namen fand sie in ihrem Gedächtnis nicht. «Das darf doch nicht wahr sein!» dachte die Briefträgerin und ärgerte sich ein bisschen. Dann kam ihr der Kaminfeger in den Sinn, der bei ihr im Einsatz war und seinen Chef am Telefon informierte: «Ich bin beim Schwedenofen an der Jura­strasse …»

«Rosenweg 21, zweiter Kasten von links.»

HALBAUTOMATISCH. Der Wortlose vom Rosenweg, die Bibelschwestern vom Rainweg. Da ist noch die LP-Sammlerin von der Oberland­strasse 39 und der Chinapäcklisüchtige vom Gartenweg 11. Am Talweg 13 die mit den Liebesbriefen, jeden Tag mindestens einen, adressiert mit amore mio, bellissima, carissima usw. Und Herzchen und Blumenbildchen.

Und die beiden von der Niesenstrasse 18, der fürsorgliche alte Mann und seine demenzkranke Frau. Sie alle haben einen Namen. Vor den Kästen verteilt die Briefträgerin die Sendungen fast automatisch. Doch später erinnert sie sich nicht, wie die Leute heissen. Vielleicht ist das der springende Punkt: halbautomatisch. Die Hand weiss mehr als der Kopf.

Ein mitgehörtes Gespräch kürzlich nach der Tour im Stollen. Kollege A: «An der Stein­strasse 5 hat jemand das Wanderwegemagazin. Die Adresse ist undeutlich aufgespritzt, ich kann sie nicht richtig lesen. Weisst du zufällig, wem es gehört?» Kollege B: «Ja, der dritte Kasten in der unteren Reihe – wie heisst sie schon wieder …?» Er fischte das Adressblatt aus dem Gestell und sagte: «Ah ja, Mar­grit Meyer.»

1 Kommentare

  1. Marianne 15. Juni 2019 um 15:12 Uhr

    Liebe work
    Kathle, die Pöstlerin, soll mir ihre E.Mail-Adresse schicken: Ich habe schöne Portraits vom Frauenstreik in Bern.
    Baci
    Marianne

    kellermar@bluewin.ch
    … natürlich nicht veröffentlichen, claro!

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