3 Generationen feministischer Forscherinnen ziehen Bilanz:
Wie kam es zum Frauenstreik?

Die Antworten von drei feministischen Forscherinnen aus drei Generationen: Soziologin Claudia Honegger (71), Historikerin Caroline Arni (49) und Genderforscherin Fleur Weibel (35). Sie waren dabei und ziehen Bilanz.

Caroline Arni, 49, Geschichtsprofessorin, Uni BaselEntscheidend war das ­Konzept «Streik»

ERST DER ANFANG: Historikerin Caroline Arni mit ihrer Tochter Nora. (Foto: ZVG)

«Für einen Moment haben sehr viele Frauen in der Schweiz ihre ­Situationen ins Zen­trum der Auseinandersetzung gerückt, haben sich als Frauen zum politischen Subjekt erhoben. Das ist an sich schon ein Ereignis. In doppelter Hinsicht: Zum einen haben sie sich angemasst, die Welt, in der sie leben, alles – die Arbeit, die Sexualität, die Beziehungen, die Politik – aus der Perspektive der Frauen anzuschauen. Alle anderen politischen Perspektiven haben sie für einen Moment aus den Angeln gehoben. Ganz offensichtlich hat genau das einem Bedürfnis entsprochen. Und deshalb war es ­nötig. Denn diese Anmassung reagiert ja auf die Zumutung, sonst immer zweitrangig zu sein, nachgeordnet zu werden.

Die Frauen haben sich angemasst, die Welt aus der Frauenperspektive anzuschauen,…

SCHWESTERLICHKEIT. Zum andern haben sie sich für einen Moment über ihre Verschiedenheiten hinweggesetzt, haben das, was sie trennt und unterscheidet, auf die Seite gestellt und sich verbündet. Oder genauer: Sie haben ihre Verschiedenheit zum Ausgangspunkt genommen, um das Gemeinsame und die Zusammenhänge untereinander zum Thema zu machen. Ein solcher Moment kann gar nicht überschätzt werden: als ein historisches Ereignis, auf das man sich wieder beziehen kann, und als eine individuelle Erfahrung dessen, was man früher Schwesterlichkeit genannt hat. Die unbändige Freude, die im Frauenstreik zum Ausdruck kam, hat viel mit dieser Erfahrung zu tun.

ARBEIT IM MITTELPUNKT. Ich glaube, entscheidend für diesen Riesenerfolg war das Konzept ‹Streik›. Zum einen, weil die Frage der Arbeit gesellschaftliche Zusammenhänge offenlegt: wie die hoch bezahlte Karriere der einen auf den tief entlohnten Jobs der andern beruht, wie die Erwerbsarbeit der einen auf der unbezahlten Arbeit der andern, wie gerade Frauen oft beides – bezahlte und unbezahlte Arbeit – in sich vereinen.

Zum andern hat der Streik den Tag an alle Orte hingetragen, in die Betriebe, die Schulen, die Wohnungen, die Spitäler, die Läden, die Höfe und so weiter – ganz unabhängig davon, ob nun gestreikt wurde oder nicht: überall musste man sich damit auseinandersetzen, ob das nun laut geschah oder vielleicht auch einfach nur in einzelnen Köpfen.

… alle anderen politischen Perspektiven hoben sie für einen Moment aus den Angeln.

ENTEIGNUNG DES KÖRPERS. Was mich am meisten beeindruckt hat, ist die Vielfalt der Aktionen, der Anliegen, der Wünsche – was alles nebeneinanderstehen konnte, durchaus auch in Widersprüchen zueinander. Überrascht und bewegt hat mich die erneute Politikfähigkeit des weiblichen Körpers, gerade bei jungen Frauen. Der Wille, sich diesen Körper zu eigen zu machen, ihn selbst zu benennen und damit der Objektivierung und Enteignung dieses Körpers etwas entgegenzuhalten. Als Historikerin der feministischen Kritik, die sich dafür interessiert, wann was weshalb zu einem Thema wird, fand ich das eindrücklich: Denn es spricht von vielen einzelnen, manchmal grossen, manchmal kleinen Erfahrungen der Herab­setzung, der Entmächtigung – und der Weigerung, das hinzunehmen. Mein Lieblingsspruch kam von den Kita-Frauen, die am Zürcher Paradeplatz skandiert hatten: ‹Eure Kinder, die betreuen wir, eure Kinder werden so wie wir!› Und dann waren da auch die Frauen morgens am Snack-Stand im Bahnhof. Die Männer wollten ihre Schichten nicht übernehmen, aber sie trugen Frauenstreik-Pins. Ihr Mut hat mich beeindruckt. Für mich war es ja einfach, an diesem Tag teilzunehmen, für sie nicht.

ERST DER ANFANG. Es war erst der Anfang, sagen die Frauen von den Komitees, und sie haben natürlich recht. Es ist immer wieder erst ein Anfang in der Geschichte der Frauenbewegung, in allen politischen Kämpfen, aber die Anfänge stehen nie am selben Ort. Es wird Ernüchterungen geben, Gegenreaktionen, Streit in der Bewegung, Medien und Wissenschafter, die Effekte messen werden wollen. Aber aus der Geschichte wissen wir: Es kommt ebenso sehr auf das Nicht-Messbare an, auf die Erfahrung der Gemeinsamkeit in der Verschiedenheit und darauf, dass sich spätere Ereignisse auf frühere beziehen können. Das ist ein Kapital, oder besser: ein Schatz. Eine wichtige Botschaft für alles weitere bleibt: Jede an ihrem Ort nach ihren Möglichkeiten. Das war schon 1991 wichtig, auch 2019 wieder, und daran kann man sich ­erinnern.»


Claudia Honegger, 71, Soziologieprofessorin BernDer Tag war grossartig, ­unglaublich, kühn und unerhört

ÖFFENTLICHKEIT IST HERSTELLBAR: Soziologin Claudia Honegger. (Foto: Beat Schweizer; Montage: work)

Mehr als eine halbe Million Menschen auf den Strassen und Plätzen in der ganzen Schweiz, in den Städten und in den vielen kleineren Ortschaften. Es ist also möglich, in hellen Scharen auf die Strasse zu gehen, den Tag und die Nacht zu erobern. Keine Beleidigungen, keine Geschmacklosigkeiten, keine Ausrutscher, keine Aggressionen, keine Scharmützel, keine Fehden, weder untereinander noch mit den Ordnungshüterinnen.

Es war ein eindrücklicher Akt des zivilen Ungehorsams. Und dieser Akt zeigt, dass Öffentlichkeit herstellbar ist und gerade in diesen Zeiten der Fragmentierung in den sozialen Medien hergestellt werden kann und muss: kritisch und kämpferisch, lustvoll und lustig.

Es war ein eindrücklicher Akt des zivilen Ungehorsams.

HARTNÄCKIGE HERABMINDERUNG. Selbstverständlich müssen Forderungen wie Elternurlaub und politische Repräsentanz weiterhin vertreten werden. Auch ‹Gleicher Lohn für gleiche Arbeit› – eine Parole, die bereits in meiner Rede am 1. Mai 1969 enthalten war (und von den Gewerkschaften damals keineswegs allgemein goutiert wurde). Aber es geht ja auch darum, dass es keinen gleichen Lohn für ‹ungleiche Arbeit› gibt. Denn nach welchen Kriterien lassen sich die Strapazen des Alltags als Bauarbeiter etwa mit denen einer Pflegefachfrau vergleichen? Es gibt selbstverständlich unterschiedliche Arten der Qualifizierung, aber auch hartnäckige Traditionen der Wertschätzung von männlicher Arbeit und der Herabwürdigung weiblicher Tätigkeiten.

Und das bis heute. Daher die am Frauenstreik omnipräsente Parole ‹Respekt›: Wertschätzung der von Frauen tagtäglich geleisteten Arbeit in Beruf und Familie. Zudem sei die körperliche, psychische und physische Integrität des weiblichen Menschen zu respektieren. Wenn ich heute miterlebe, wie junge Frauen, die sich ex­ponieren, in den (sozialen) Medien fertig­gemacht werden, wird mir schwindlig. Ziemlich sicher wurden wir damals als ­Feministinnen am Stammtisch ebenfalls runtergeputzt, aber es kam nicht ungefiltert in der ganzen Bösartigkeit und Häme wie heutzutage bei uns an.

PATRIARCHAT SCHON TOT. Es gab und gibt kluge Feministen, die begriffen haben, dass es um die männliche Prägung von Institutionen geht, um eine weibliche Per­spektive auf die Welt, die Frauen wie Männer aus den Verkrustungen patriarchaler Traditionen lösen soll. Wobei das Patriarchat ja eigentlich am Ende, in Reinform wohl nur noch in der Mafia anzutreffen ist oder in den eher vulgären Versionen an der Spitze von Weltmächten und Weltkonzernen.

Das verweist auf die gleichsam internationale Dimension dieses Streiks. Er thematisierte nicht nur die Rückständigkeit der Schweiz in einzelnen Fragen, sondern zeigte die Kraft der Zivilgesellschaft auf, die gerade in Form von Frauenverbänden hierzulande eine lange Geschichte hat.

So kam es zu diesem Fest der ‹zivilen Menschlichkeit› (Friedrich Dürrenmatt).»


Fleur Weibel, 35, Genderforscherin und Soziologin, Uni BaselDie gegenseitige Ermächtigung war b­erührend

GROSSE KRAFT! Gender­forscherin Fleur Weibel. ( Foto: ZVG)

Es war eine extreme Mobilisierung: In lokalen Kleinstzellen haben sich immer mehr Frauen engagiert, auch viele, die sich sonst nicht politisch engagieren. Es kam auf jede einzelne Frau drauf an, darauf, was sie dachte, organisierte und einbrachte. Da sind Netzwerke entstanden, Freundschaften. Ein Lauffeuer.

VIVA LA VULVA! Hunderttausende, Frauen, trans* und non-binäre Personen und auch Männer haben sich von diesem Frauenstreik angesprochen gefühlt. Den einen ging es vor allem um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Den anderen um bezahlte und unbezahlte Arbeit. Wieder anderen um den Kampf gegen sexuelle Gewalt und die Anerkennung von Weiblichkeit, die oft herabgesetzt wird. Stichwort #MeToo. Viele junge Frauen trugen Plakate mit ‹Viva la Vulva!›, in Bern und in Basel hatten sie Tampons rot eingefärbt, mit dem Spruch: ‹Ich kann alles, was du kannst, blutend›. Und obschon Hunderttausende auf den Strassen standen, war die Stimmung nicht stressig, sondern wertschätzend, achtsam und liebevoll.

Ich denke, viele Frauen begriffen, aha, da wird etwas fortgeschrieben. Sie sahen sich auf einmal als Teil der Frauengeschichte der Schweiz. Plötzlich drang auch der erste Streik von 1991 wieder ins Bewusstsein, gerade auch der jungen Frauen. Ein grosser, feministischer Wissens­transfer fand statt. Historisches
Bewusstsein verbreitete sich.

Ein grosser feministischer Wissenstransfer fand statt.

ES REICHT! Und da war dieses Gefühl: ‹Es reicht!› Weil es in der Schweiz mit der Gleichstellung so langsam vorwärtsgeht. Weil Forderungen von minorisierten Gruppen immer wieder relativiert und als unrealistisch, zu teuer oder unschweizerisch abgetan werden. Stichworte: Mindestlohn, Elternzeit, Ehe für alle usw. In ganz Europa beobachten wir Rückschläge, gerade bei den Rechten der Frauen. Stichwort Abtreibungsrecht. Wir ­sehen rechte Männerregierun-gen an die Macht kommen, die mit Sexismus und Erniedrigung von Frauen punkten. Das macht Angst – und es macht ­wütend! Und gerade junge Frauen merken plötzlich: Was sie für garantiert hielten, wird wieder in Frage gestellt. Also müssen auch sie was tun.

NICHT ALLEINE. Richtig berührend fand ich diese gegenseitige Ermächtigung, die heisst: ‹Toll, dass auch du da bist!› In Basel strömten ja alle irgendwann auf den Thea­terplatz. Von der Uni, aus dem Spital, aus Baselland, von überall her kamen sie, und jede neue Gruppe wurde von den Menschenmassen auf dem Platz bejubelt und beklatscht, als wären sie Stars. Es war ein Gefühl riesiger Freude, eine grosse Kraft, gegenseitige Ermächtigung eben.

Dieses Gefühl, ‹ich bin nicht alleine, wir sind viele, und wir sind mächtig›, nehmen sicher sehr viele mit in den Alltag zurück. Das führt hoffentlich dazu, dass sich künftig noch mehr Frauen trauen, Dinge anzusprechen, mit denen sie nicht einverstanden sind. Dass sie aufstehen und sich wehren gegen die bestehenden Ungerechtigkeiten – im Wissen, eine grossen feministische Solidarität im Rücken zu haben.»

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