Nur durch einen Zufall landeten nicht alle Fotos von Ernst Koehli im Altpapier. Ein überaus glücklicher Zufall.
MALER IM STREIK. Nach den Metzgern und den Gärtnern streikten 1953 in Zürich auch die Maler. Neun Wochen lang. Fotograf Koehli dokumentierte sie bei der Streikversammlung auf dem Helvetiaplatz. (Foto: Ernst Koehli)
Die Aktfotos und die Pflanzenbilder hatte Frau Koehli schon entsorgt. Und auch den Rest des Fotoarchivs ihres Mannes wollte die Witwe 1984 ins Altpapier geben. Wäre zu dieser Zeit nicht der Zürcher Grafiker Raymond Naef an einem kleinen Schaukasten vorbeigekommen, in dem er eine Handvoll Bilder von Ernst Koehli entdeckte: Aufnahmen vom Kreis 4, Zürichs Arbeiterquartier.
Bilder, die Naef für ein Ausstellungsprojekt haben wollte. Einen Anruf und einen Besuch bei Frau Koehli später trug er sie kistenweise nach Hause. Damit rettete Naef nicht nur Koehlis gesamtes Fotoarchiv. Sondern auch einen Teil der Schweizer Arbeitergeschichte.
Koehlis Bilder sind stark, aber unaufgeregt.
ARBEITER GEGEN BANKSTER. Jetzt erscheint der umfassende Bildband: Er heisst «Chronist der sozialen Schweiz» und zeigt Koehlis Werk zwischen 1933 und 1953. Eine Zeit, geprägt von der geistigen Landesverteidigung. Aber auch von einer bewegten Arbeiterschaft, Streiks und Protesten.
Fotograf Koehli begleitet die Arbeiter zuerst auf eigene Faust. 1933, als 20jähriger und noch etwas wackelig unterwegs, schiesst er in Zürich, Winterthur und St. Gallen seine ersten Demo-Bilder. Als Begleiter einer grossen Bus-Protestfahrt mit über 900 Chauffeuren, die für geregelte Arbeits- und Ruhezeiten protestieren. Aber auch als Zeuge einer Demonstration gegen den rechten Finanzminister und früheren Banker Jean-Marie Musy, der die Löhne von Staatsangestellten um 15 Prozent kürzen will.
Der junge Koehli fotografiert an diesem Tag von oben herunter auf die Menschenmenge. Oder von hinten, aus einiger Entfernung, so dass oft kaum Gesichter zu erkennen sind. Sondern nur Mäntel, Hüte und Regenschirme.
STREIK-REPORTAGE. Später aber ist Koehli auch immer nah am Menschen. Mit Berufsportraits von gebückten Krawattennäherinnen und Spleissern, die in tiefen Schächten Tausende Telefonkabel verbinden. Auf Besuch in den Hangars der damals noch jungen Swissair oder in den Zigarrenfabriken im Aargau. Er arbeitet jetzt immer mehr auf Auftrag, auch der Gewerkschaften.
Fast frontal richtet Koehli 1942 die Linse auf die Metzgerarbeiter, die sich im Zürcher Volkshaus treffen. Zur Protestveranstaltung kommen sie im «Sonntagsgwand», die Gesichtszüge sind konzentriert, die Arme verschränkt. Ähnlich wie die Gärtner fünf Jahre später, die – wieder im Volkshaus – einen Streik beschliessen. Weil die Wirtschaft zwar brummt, aber Gärtner noch immer gleich viel verdienen wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Über eine Woche dauert der Ausstand. Und Koehli fotografiert und fotografiert.
Seine Bilder sind stark, aber unaufgeregt. Ganz im Gegensatz zu den damaligen Schlagzeilen der rechten NZZ. Sie behauptet in grossen Lettern: «Die Sozialisten greifen zum Terror.»
Chronist der sozialen Schweiz. Fotografien von Ernst Koehli 1933–1953. Herausgegeben von Christian Koller und Raymond Naef, Verlag Hier und Jetzt, 2019, CHF 59.–.
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