Ex-Mitarbeitende der Firma MS Direct packen aus:
Schimmel, Schikane und schäbige Löhne

Die Skandalfirma MS Direct ­betreibt für Coop ein Callcenter in Muttenz BL. Dort herrschen gruusige Zustände – aber die Chefin garniert ein Traumsalär.

MAXIM KAUFMANN UND FLAVIA RIPA: Sie konnten die Demütigungen und Ungerechtigkeiten bei MS Direct nicht länger ertragen. (Foto: Stefan Bohrer)

«Der Job ist in Ordnung», dachte Flavia Ripa zuerst. Vor knapp zwei Jahren fing die heute 24jährige Baselbieterin bei der Firma MS Direct an. Die betreibt in Muttenz BL ein Callcenter im Auftrag von Coop. Ob Fragen zur ­Supercard oder Adressänderungen für die Coop-Zeitung: Kundendienstanfragen des Detailhändlers, ob per Telefon oder Mail, landen in Muttenz. Zwischen 60 und 90 Mitarbeitende kümmern sich darum.

Bereits letztes Jahr hatte work über Missstände in einem MS-Direct-Callcenter berichtet. Der Artikel schlug ein. Nicht weniger als neun MS-Direct-Geschädigte kommentierten auf der work-Website. work hat sie alle kontaktiert.

Im Gespräch sagt Ripa, ihr Stundenlohn habe 24 Franken betragen. Zuerst konnte sie hundert Prozent arbeiten und kam so auf 4300 bis 4500 Franken im Monat. Aber plötzlich war Schluss damit. «Immer wieder schickte mich der Chef nach einer halben Stunde schon heim, es gebe zu wenig Arbeit.» Von einem Monat auf den anderen sank ihr Monatslohn auf 2800, später sogar auf 1700 Franken. Davon konnte sie nicht leben.

Und sie fühlte sich unfair behandelt: «Es waren immer die gleichen fünf oder sechs, die heimgeschickt wurden. Andere hätten gerne einen freien Nachmittag gehabt, mussten aber bleiben.» Als sie den Chef darauf ansprach, schrie er sie an.

«Hände weg von dieser Firma!»

ARBEIT NUR NOCH AUF ABRUF

Auch ihr Freund, der 34jährige Maxim Kaufmann, fing in Muttenz als Callcenter-Agent an. Nach sechs Monaten stieg er zum Teamleiter auf und war für bis zu 30 Mitarbeitende verantwortlich. Sein Lohn: gerade mal 4700 Franken brutto. Ganz anders seine Chefin, die Standortleiterin. Kaufmann: «Per Zufall fand ich heraus, dass sie sich ein Traumsalär von fast 10’000 Franken auszahlte.»

Oben garnieren, unten drücken: Nach diesem Leitspruch funktioniert MS Direct auch anderswo (siehe Text unten). Wanda Stoll* (47) arbeitete acht Jahre im Callcenter in Otelfingen bei Zürich. Zuerst gehörte es dem Modeversand Heine, 2017 übernahm MS Direct den Betrieb – und senkte die Löhne. Stoll: «Mein Stundenlohn von 24 Franken 50 sollte um rund 3 Franken sinken. Das liess ich mir nicht gefallen.» Wie die anderen in diesem Artikel zitierten Personen hat Stoll die Firma unterdessen verlassen.

Franziska Binz* (29) kündigte erst vor wenigen Wochen. Heute sagt sie: «Hände weg von dieser Firma!» Vor allem wegen des neuen Lohnsystems, das die Firma im Januar einführte. «Arbeitspensum 60 bis 100 %» steht jetzt in den Arbeitsverträgen. Die tatsächliche Arbeitszeit «ergibt sich je nach Bedarf und Aufgebot». Ende Monat gibt’s aber nur 60 Prozent des Lohnes. Die darüber gearbeiteten Stunden werden erst einen Monat später bezahlt.

ES TROPFT VON DER DECKE

Binz und ihre Kollegin Miriam Strasser* (22), die beide in Muttenz arbeiteten, berichten zudem Unappetitliches. So seien die Büros schmutzig. Auch die Heizkörper seien mit Dreck verschmiert. Und ein Jahr lang sei das Dach undicht gewesen. Strasser: «Drei oder vier Arbeitsplätze konnten wir gar nicht benutzen, weil es von der Decke tropfte.» Am Schluss habe gar die ganze Belegschaft den Hintereingang benutzen müssen. Denn der Haupteingang war durch eine grosse Kiste versperrt, die das Regenwasser auffangen sollte. Binz: «Überall standen Kessel herum, und die Decke fing an zu schimmeln.» Zwar inspizierte das Gesundheitsamt den Ort. Aber was daraus wurde, erfuhren die Mitarbeitenden nicht.

Syndicom und Coop wollen Antworten

MS Direct nimmt zu der Kritik keine Stellung. Stattdessen verweist die ­Firma auf die Gewerkschaft Syndicom, «unseren Sozialpartner». Giorgio Pardini ist in der Syndicom-Geschäftsleitung. Er sagt auf Anfrage: «Als zuständige Branchengewerkschaft werden wir diese Sache mit MS Direct prüfen.»

ZEITNAH? Coop, in deren Auftrag MS Direct das Callcenter in Muttenz seit knapp sechs Jahren betreibt, hat jetzt mit der Firma Kontakt aufge­nommen. Sprecher Urs Meier sagt: «Wir ­nehmen diese Kritikpunkte sehr ernst. Faire Arbeitsbedingungen sind für Coop wesentlich.» Man werde die kritisierten Punkte «zeitnah» mit MS Direct besprechen. work bleibt dran.


MS Direct:Frieren für Zalando

Callcenter, Logistik, IT-Support: 1000 Mitarbeitende beschäftigt die Firma MS Direct an sieben Standorten. Und sorgt immer wieder für Negativschlagzeilen. Eine Chronik:

Dezember 2017: Im work schildert Maria B. ihre Arbeitsbedingungen bei MS Direct in St. Gallen. Sie musste Zalando-Retouren reinigen und sortieren. Zeitvorgabe: 80 Sekunden pro Stück. Wer zu langsam ist, wird alle zwei Stunden von der Schichtleiterin zur Eile angetrieben. In der Halle zieht es, im Winter braucht sie Handschuhe. Ihr Stundenlohn war am Anfang 16 Franken 50 brutto, später 17 Franken. Zum work-Artikel: rebrand.ly/direct1.

FEBRUAR 2018: Mitarbeitende des Callcenters in Feldmeilen ZH melden sich bei work. Eine von ihnen war zunächst im Monatslohn angestellt. Nach drei Jahren beschied ihr MS Direct, man werde sie nur noch im Stundenlohn beschäftigen. Danach wurde sie immer wieder am Nachmittag oder schon am Mittag heimgeschickt. Die Folge: Ihr Verdienst sank von 4150 auf knapp 3500 Franken. Einer Sach­bearbeiterin wollte MS Direct das ­Pensum von hundert auf fünfzig Prozent kürzen. Als sie nicht unterschrieb, bekam sie die Kündigung. Mit allerlei Tricks versuchte die Firma zudem, die Arbeiterinnen um ihr Geld zu prellen. Zum work-Artikel: rebrand.ly/direct2.

August 2019: Die Gewerkschaft Syndicom gibt bekannt, dass sie mit MS Direct einen Gesamtarbeitsvertrag abgeschlossen habe. Er betrifft 400 Mitarbeitende, die für Firmen wie Zalando Pakete verarbeiten. Ein «Meilenstein», schreibt Syndicom. Nur: Die Löhne sind kaum mehr, als was MS Direct bisher bezahlt hat. 17.57 Franken pro Stunde im ersten halben Jahr, dann 18.21 für Ungelernte und 19.12 für Gelernte. Damit unterbietet der GAV sogar den umstrittenen Mindestlohn von 18.27 Franken.

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