Das gab’s noch nie: Der Kanton Jura schreibt sämtliche Buslinien neu aus – ohne GAV-Pflicht, überhaupt ohne Schutz vor Lohndumping.
UNGEWISSE ZUKUNFT: Chauffeur Jean-Charles Froidevaux weiss nicht, ob und zu welchen
Bedingungen er im nächsten Frühling noch arbeiten kann. (Foto: Franziska Scheidegger)
Chauffeur Jean-Charles Froidevaux schaut genau hin. «Mach deinen Sicherheitsgurt zu», sagt er einem Jungen in der zweiten Sitzreihe des Schulbusses. Dann geht’s los. Gut zehn Kinder bringt er von Saignelégier in den jurassischen Freibergen nach Hause. Es ist drei Uhr nachmittags, seine letzte Fahrt für heute. Angefangen hat er morgens um sechs mit dem Linienbus Saignelégier–Glovelier wie fast jeden Tag. Bevor er Bus-Chauffeur wurde, fuhr Froidevaux 25 Jahre lang Lastwagen für die Post. «Es hat mir immer gut gefallen, auf der Strasse unterwegs zu sein», sagt der 49jährige. Doch jetzt macht er sich definitiv Sorgen.
«Die neuen Löhne könnten 30 Prozent tiefer sein als heute.»
DAS GROSSE GELD LOCKT
Denn der Kanton Jura hat alle 38 Buslinien auf Kantonsgebiet öffentlich ausgeschrieben. Um Kosten zu sparen und «die Effizienz zu verbessern», so der Regierungssprecher gegenüber work. Im Frühling will die Regierung entscheiden, welche Firma den Zuschlag bekommt. Dabei geht es um viel Geld: Die Konzession, zehn Jahre ab Dezember 2021, bringt einen Umsatz von über 200 Millionen Franken. Finanziert vom Bund, den Kantonen Jura und Bern, den Gemeinden und den Passagieren.
Diese Summe lockt auch ausländische Firmen an, etwa die französische RATP. Die Pariser Verkehrsbetriebe expandieren seit Jahren. Sie betreiben Buslinien in London, das ganze Busnetz der US-Stadt Austin oder die Trams in Hongkong. Auch in der Schweiz ist RATP bereits mit einer Tochtergesellschaft präsent: 120 Mitarbeitende fahren Stadtbusse in Genf (mit tieferen Löhnen als bei den städtischen Verkehrsbetrieben) oder Schulbusse in der Waadt.
Noch ist Chauffeur Froidevaux, der seinen Schulbus zügig und routiniert durch die schon schneebedeckte jurassische Landschaft steuert, von den Chemins de Fer du Jura angestellt. Diese gehören den Kantonen Jura, Bern und Neuenburg und haben einen Gesamtarbeitsvertrag. Rund 5500 Franken pro Monat beträgt der Durchschnittslohn einer Fahrerin oder eines Fahrers.
GEFÄHRLICHES EXPERIMENT
Froidevaux ist Mitglied der Transportgewerkschaft SEV. Noch vor zwei Jahren war er zuversichtlich. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen sammelte er Unterschriften für eine Petition, unterstützt von den Gewerkschaften SEV und Syndicom. Die Forderung: Der Kanton solle die neuen Betreiber der Buslinien verpflichten, einen GAV abzuschliessen. 4000 Personen unterschrieben – doppelt so viele, wie im Kanton für eine Initiative nötig wären. Kurz darauf stimmte auch das Kantonsparlament für eine Motion mit dem gleichen Inhalt. Froidevaux: «Da dachten wir, es wird alles halb so schlimm.» Doch es kam anders.
Diesen Sommer veröffentlichte der Kanton die Kriterien für die Ausschreibung. Die Firma, die den Zuschlag bekommt, muss zwar die Fahrzeuge übernehmen, aber nicht die Chauffeurinnen und Chauffeure. Und es gibt keine GAV-Pflicht, ja überhaupt gar keinen Schutz vor Lohndumping. Das Dokument erwähnt nur den Mindestlohn des Bundesamts für Verkehr. Dieser beträgt nicht einmal 4500 Franken. Jean-Charles Froidevaux macht sich keine Illusionen: «Die neuen Löhne könnten bis zu 30 Prozent tiefer sein als heute.»
Er hält seinen Schulbus an einer Kreuzung im Nirgendwo. Ein kleines Mädchen sollte hier von seiner Mutter abgeholt werden. Doch die ist verspätet. «Weisst du was», sagt Froidevaux, «bleib im warmen Bus, und ich lade dich auf dem Rückweg ab.»
Die Konzession bringt einen Umsatz von 200 Millionen Franken.
AUSGERECHNET DER JURA!
Dass ein Kanton so viele Buslinien aufs Mal öffentlich ausschreibt, gab es noch nie in der Schweiz. Christian Fankhauser vom SEV sagt, andere Kantone hätten bisher nur einzelne Linien ausgeschrieben, «höchstens einmal drei aufs Mal.» Ausgerechnet der Kanton Jura wage nun ein Experiment mit ungewissem Ausgang, kritisiert Fankhauser. «Bisher schaute die jurassische Regierung gut zur Bevölkerung. Und jetzt das!» Und verantwortlich dafür ist ausgerechnet ein Transportminister mit «sozial» im Parteinamen, David Eray von den Christlich-Sozialen. Er regiert zusammen mit zwei CVPlern, einer SPlerin und einem FDPler.
BIS AN DIE GRENZE
Unterdessen ist Froidevaux in Goumois angekommen, am Ende seiner Strecke. Er hält kurz vor der Brücke über den Doubs, dahinter liegt Frankreich. «Wenn die RATP Grenzgänger aus Frankreich anstellen würde – die würden solche Löhne wohl akzeptieren», sagt er. Und er? «Ich wage gar nicht daran zu denken.»
Ja, die ungewisse Zukunft mache ihm Angst, sagt der Vater einer neunjährigen Tochter auf dem Rückweg. Machtlos fühle er sich – «die spielen mit uns».
An der verlassenen Kreuzung steht jetzt die Mutter des Mädchens. Froidevaux steigt mit seiner kleinen Passagierin aus, hilft ihr über die Strasse. Obwohl weit und breit kein Auto in Sicht ist. Sicher ist sicher.
Protest: Kanton soll Löhne schützen
Chauffeur Froidevaux (Mitte) an der Demo in Delémont. (Foto: Vivian Bologna)
Rund 150 Personen haben am 27. November vor dem jurassischen Kantonsparlament in Delémont demonstriert – die bisher grösste Protestaktion der Chauffeurinnen und Chauffeure im Jura. Einen Tag vor Ablauf der Eingabefrist für die Ausschreibung forderten sie: Der Kanton soll nur Unternehmen berücksichtigen, die nicht auf Kosten des Personals und der Arbeitsbedingungen sparen.