Sie kämpfte für Demokratie und ein besseres Arbeitsrecht in der Türkei. Dann musste Lehrerin Mine Çetinkaya in die Schweiz fliehen.
MINE ÇETINKAYA: Die Kurdin wurde in der Türkei zu über 6 Jahren Gefängnis verurteilt – weil sie Gewerkschafterin ist. (Foto: Matthias Luggen)
Izmir, 28. Mai 2009. Es ist noch dunkel, als die Militärpolizei vor einem kleinen Haus hält. Lehrerin Mine Çetinkaya erinnert sich: «Um vier Uhr morgens läutete es an der Tür. Noch halb im Schlaf machte ich auf.» Dann stürmen bewaffnete Männer das Haus. Çetinkaya weiss sofort: Es geht darum, dass sie Gewerkschafterin ist.
Mine Çetinkaya ist in der regionalen Leitung der Lehrergewerkschaft Eğitim Sen aktiv. Mit 150’000 Mitgliedern ist sie eine der grossen unabhängigen Gewerkschaften der Türkei und Teil des Gewerkschaftsbunds der öffentlichen Angestellten (KESK). Sie gilt als links und regierungskritisch. Viele Mitglieder sind Kurdinnen und Kurden, auch Çetinkaya. Immer wieder bekommen sie deshalb Vorladungen: «Normalerweise wurdest du verhört und konntest wieder gehen», sagt die Lehrerin. Doch dieses Mal ist es anders. Mehr als 34 führende Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter werden an diesem Morgen verhaftet, 22 kommen in Untersuchungshaft.
«Die Regierung will die linken Gewerkschaften zerschlagen.»
IM GEFÄNGNIS
Der Vorwurf des Staatsanwalts: Ihre gewerkschaftlichen Aktivitäten würden illegalen Gruppierungen dienen. Gemeint ist der Bund der kurdischen Gemeinschaften KCK. Für Çetinkaya ist klar, dass das ein Vorwand ist: «Die Regierung will die linken Gewerkschaften zerschlagen.» Denn die Opposition gegen die Regierungspartei AKP und ihren Chef Recep Tayyip Erdoğan ist gewachsen. Wer gegen ihn ist, lebt nun noch gefährlicher (siehe Kasten unten).
Die Militärpolizei führt Gewerkschafterin Çetinkaya ab. Sie fahren zur Schule, in der sie arbeitet: «Sie zwangen mich, mit ihnen durch die Gänge zu gehen. Meine Kolleginnen und meine Schüler sollten sehen: Das hier ist eine gefährliche Frau.»
Vier Tage wird Çetinkaya in der Kaserne verhört. Schliesslich wird sie ins Frauengefängnis gesperrt. Acht Frauen sitzen in einer Zelle, die eigentlich für drei gedacht ist. Sie alle sind Lehrerinnen, Krankenschwestern, Staatsangestellte. Und immer wieder werden die Frauen von den Militärs schikaniert.
ERDOGANS RACHE
Nach 6 Monaten kommt sie frei. «Als wir dem Richter vorgeführt wurden, sassen im Saal auch die Präsidentinnen und Präsidenten europäischer Gewerkschaften». Çetinkaya ist sich sicher: Diese Solidarität hat gewirkt. Doch Freilassung hin oder her: Das Verfahren gegen sie läuft weiter.
Suruç, 20. Juli 2015. Eine Bombe explodiert im kurdischen Kulturzentrum in der türkisch-syrischen Grenzstadt Suruç. 34 Jugendliche sind tot, über 70 weitere schwer verletzt. Der Anschlag wird der Terrormiliz IS zugeschrieben. Und der türkische Staat wäscht seine Hände in Unschuld. Obwohl die oppositionelle Zeitung «Cumhuriyet» gerade publik gemacht hat, dass er den IS in Syrien mit Waffen versorgt.
Im Südosten der Türkei rufen ganze Städte die Selbstverwaltung aus. Hier leben vor allem Kurdinnen und Kurden. Erdoğans Rache kommt prompt: Er verhängt Ausgangssperren, schickt Polizisten und Militärs. Panzer fahren durch die Strassen, die Menschen verstecken sich in ihren Kellern, die Versorgung mit Lebensmitteln wird gekappt. Çetinkaya: «Wir wussten, dass dort Mütter mit kleinen Kindern und ältere Menschen seit Tagen ohne Essen und Wasser waren.»
Also rufen linke Gewerkschaften und Parteien in der türkischen Hauptstadt Ankara zu einer nationalen Friedensdemonstration auf. Auch Çetinkaya nimmt teil. Plötzlich explodieren zwei Bomben, über hundert Menschen sind tot. 28 vom Gewerkschaftsbund KESK.
Ihre Anklageschrift umfasst wahnwitzige 5000 Seiten.
DER PROZESS
Danach reist Çetinkaya in die belagerten Gebiete. Als Mitglied einer Delegation des türkischen Menschenrechtsvereins IHD will sie den notleidenden Menschen helfen. Ihr Ziel: die belagerte Stadt Cizre. Doch niemand wird durchgelassen. Dann beschiesst das Militär die Stadt mit Bomben. Mehr als 100 Zivilistinnen und Zivilisten sterben in den Kellern von Cizre. Der Horror verfolgt Çetinkaya bis heute: «Ich habe die Stimmen dieser Menschen gehört, am Telefon! Sie wollten Hilfe. Aber ich konnte nichts tun!»
Izmir, 23. Mai 2017. Der Prozess gegen Mine Çetinkaya beginnt. Sie wird schuldig gesprochen. Zusammen mit 21 weiteren Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern. Die Strafe: sechs Jahre und drei Monate Gefängnis. Ihre Anklageschrift umfasst wahnwitzige 5000 Seiten: «Vieles war wahllos zusammenkopiert», sagt die Lehrerin. Rechtlich spricht laut ihren Anwälten nichts für eine Verurteilung, doch: «Das Verfahren war politisch motiviert.»
Jetzt drängen Çetinkayas Freunde sie, sofort die Türkei zu verlassen. In den Gefängnissen wird gefoltert. Das Uno-Hochkomissariat für Menschenrechte berichtet von Elektroschocks, sexuellen Übergriffen und davon, dass Gefangene in kaltes Wasser getaucht werden, bis kurz vor dem Ertrinken.
Çetinkaya flieht. Ein kleines Plasticboot bringt sie nach Griechenland, wo sie einen Monat in einem Flüchtlingscamp lebt. Dann schafft sie es über den Landweg in die Schweiz. 2 Jahre, 5 Monate und 28 Tage ist Mine Çetinkaya jetzt hier. Sie zählt die Tage. Als Unia-Mitglied führt sie ihre Gewerkschaftsarbeit weiter. Doch ihr Asylentscheid ist noch immer hängig.
Türkei: Krieg und Ausnahmezustand
Mit seinem Angriffskrieg auf Nordsyrien Anfang Oktober löste der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine internationale Protestwelle aus. Erdoğans Ziel: die kurdischen Gebiete zu zerstören und die Menschen zu vertreiben (work berichtete).
Doch auch innerhalb der Türkei treibt Erdoğan seit Jahren eine politische «Säuberung» voran, um die eigene Macht zu zementieren.
150’000 ENTLASSENE. Ein Grossteil der Opposition sitzt inzwischen im Gefängnis, kritische Medien gibt es nicht mehr. Und: Mehr als 20 Gewerkschaften wurden verboten, das Streik- und Arbeitsrecht eingeschränkt. Nach dem gescheiterten Putsch des Militärs 2016 verhängte Erdoğan den Ausnahmezustand. Justiz und Parlament wurden weitgehend ausgeschaltet und 150’000 Staatsangestellte aus dem Bildungs-, Justiz-, Sicherheits- und Gesundheitsbereich entlassen. Wegen angeblicher Terrorverbindungen. Mehr als 70’000 von ihnen sitzen in Haft.