Jean Ziegler
Es war der 1. Mai 2007. Ein kühler Herbstabend in der bolivianischen Hauptstadt La Paz. Ein paar ausländische Gäste hatte Staatspräsident Evo Morales in den Festsaal des Palastes eingeladen. Plötzlich stand ich neben zwei Generälen in der dunkelgrünen Uniform des Regiments Condor. Diese Spezialeinheit der bolivianischen Armee ist verantwortlich für die Ermordung Che Guevaras und Tausender Gewerkschafterinnen und Bauern des Landes.
Ich wandte mich erschreckt ab. Evo hatte meine Reaktion beobachtet. Leise, aber lächelnd sagte er zu mir: «Compañero, wenn Washington diesen zwei Männern grünes Licht gäbe, würden sie mich mit Vergnügen umbringen.»
«Die Wahrheit, die einmal erwacht ist, kehrt nie wieder zum
Schlaf zurück.»
DER PUTSCH. An diesen Abend dachte ich zurück, als im letzten November nach der umstrittenen Wiederwahl von Morales als Präsident Boliviens der Neofaschist Luis Fernando Camacho aus der Tieflandmetropole Santa Cruz de la Sierra einen Staatsstreich organisierte. Evo und seine engsten Mitkämpfer flohen nach Mexiko, Jeanine Añez, zweite Vizepräsidentin des Senats und Marionette Camachos, zog in den Präsidentenpalast ein. Seither herrscht Chaos in Bolivien.
Bolivien beherbergt Kinder und Enkel deutscher und kroatischer Nazis. Sie wurden reich durch die Kontrolle der Erdgasausbeutung im Tiefland und besitzen riesige Ländereien. Als katholische Rassisten haben sie die Wahl von Evo Morales, einem Angehörigen des indianischen Volkes der Aymara, im Dezember 2005 nie akzeptiert. Für sie war es eine Provokation, dass sich Morales am 8. Januar 2006 in den Ruinen von Tiwanaku, der ehemaligen Hauptstadt der Aymara, von traditionellen Würdenträgern und erst vier Tage später in La Paz vom Kongress vereidigen liess. Aus der Ablehnung wurde Feindschaft, als Morales den wirtschaftlichen Umbruch vollzog: Am 1. Mai 2006 wurden 221 private Erdöl-, Minen- und Erdgasunternehmen in Gesellschaften verwandelt, die 80 Prozent ihrer Einnahmen dem Staat abgeben mussten.
NULL HUNGER. Bis dahin galt Bolivien nach Haiti als das ärmste Land Lateinamerikas mit einer Unterernährungsrate von 35,2 Prozent. Tausende Kinder starben jährlich an Hunger. Deshalb war die erste Massnahme, die Morales ergriff, die Bekämpfung des Hungers. Weil ich Sonderbeauftragter der Uno für das Recht auf Nahrung war, lud er mich ein, ihn beim Plan «Hambre cero» (Hunger null) zu unterstützen. Dank der nunmehr staatlichen Einnahmen aus der Rohstoffausbeutung war die Unterernährung innerhalb von sechs Jahren besiegt.
Das wird die grosse Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung – 65 Prozent sind Angehörige indianischer Völker – nicht vergessen. Morales war der erste Präsident dieser Mehrheit, die bis zu seiner Wahl wirtschaftlich, sozial und juristisch diskriminiert und ausgebeutet wurde. Der kubanische Poet José Martí schrieb: «Die Wahrheit, die einmal erwacht ist, kehrt nie wieder zum Schlaf zurück.» Im Erwachen der bolivianischen Indianer liegt eine ungeheure Kraft. Sie werden sich nicht wieder unterwerfen.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neustes Buch ist: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
„Der kubanische Poet José Martí schrieb: «Die Wahrheit, die einmal erwacht ist, kehrt nie wieder zum Schlaf zurück.» Im Erwachen der bolivianischen Indianer liegt eine ungeheure Kraft. Sie werden sich nicht wieder unterwerfen.“ In der Tat. Deswegen ist Compañero Evo ja jetzt weg.