Jean Ziegler
Ulrich Ochsenbein war ein ungestümer, blitzgescheiter, lebenslustiger Revolutionär aus dem Kanton Bern. Er war Inspirator der Bundesverfassung und Bundesrat von 1848 bis 1854. In der alten Tagsatzung galt das an Weisungen gebundene Abstimmungsverhalten. Ochsenbein klagte die katholisch-konservativen Kantone des Sonderbunds an, stets gemäss den Instruktionen der Jesuiten zu stimmen. Ochsenbein gewann: Artikel 91 der Bundesverfassung verbietet den Delegierten, «nach Instruktionen» zu stimmen.
Banken, Versicherungen oder Krankenkassen rekrutieren gut bezahlte Verwaltungsräte im
Parlament in Bern.
WIEDERHOLUNG. Karl Marx schrieb: «Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal. Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.» Wer genau hinschaut, erkennt, dass das imperative Mandat zurück im Berner Bundeshaus ist.
In der dritten Januarwoche haben die Berner Parlamentsdienste das «Register der Interessenbindungen» publiziert. Die Lektüre ist erschreckend. Multinationale Gesellschaften, Banken, Versicherungen oder Krankenkassen rekrutieren massenweise meist hochbezahlte Verwaltungsräte unter den Parlamentarierinnen und Parlamentariern. Wir haben ein kolonisiertes Parlament. Natürlich behauptet jede und jeder der Gekauften, ausschliesslich gemäss dem eigenen Gewissen abzustimmen.
Nehmen wir ein Beispiel: Der 35jährige Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller wurde im Dezember 2019 in die einflussreiche «Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit» gewählt. Jetzt hat er plötzlich neue Mandate der «Groupe de réflexion» der Krankenkasse Groupe Mutuel, des «Sounding Board» des Ärzteverbands FMH und des Internet-Vergleichsdienstes Comparis, der sich besonders gern mit Krankenkassen beschäftigt.
SÖLDNER. Von Berufs wegen hat Müller keinerlei Kompetenz im Gesundheitswesen. Gegen viele Tausend Franken im Jahr wird er trotzdem für die nächsten Jahre die Gesundheitspolitik der Schweiz massgeblich mitbestimmen. Resultat: Die gängigen Medikamente sind hier meist doppelt so teuer wie im Ausland. Die Schweizerinnen und Schweizer zahlen für ihre obligatorische Krankenversicherung mehr als irgendeine Bevölkerung in Europa.
Der Walliser CVP-Ständerat Beat Rieder hat einen Vorstoss eingereicht. Er will den Kommissionsmitgliedern verbieten, private Mandate anzunehmen, die aus dem Zuständigkeitsbereich der Kommission stammen und die mit mehr als 5000 Franken pro Jahr vergütet werden.
Für einmal hat Roger Köppel, SVP-Nationalrat und Verleger der «Weltwoche», recht. In einem Video, das der «Tages-Anzeiger» kürzlich zitierte, stellte Köppel fest: «Das Problem ist, dass Politiker, nachdem sie gewählt wurden, zum bezahlten Söldner mutieren.»
Beat Rieders Vorstoss hat kaum Chancen auf Erfolg. Es sei denn, die öffentliche Meinung erwacht und macht der Kolonisation der Bundesversammlung durch Privatinteressen ein Ende.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Im Januar erschien sein neustes Buch: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
Lieber Jean Ziegler
Es ist die Tragik engagierter Menschen beobachten zu müssen, dass die öffentliche Meinung nur sehr selten, sporadisch und kurzlebig erwacht.
Das so geannte „Stimmvolk“ wollte eben auch keine Einheitskrankenkasse, sie wollen die 2. Säule lassen, obwohl sie dauernd abgezockt werden, sie wollten auch keinen Mindeslohn für die ganz unten, sie wollen lieber, dass IV-Rentner von Detektiven bespitzelt werden usw. usw. usw..
Ich weiss, dass Sie sich zeitlebens intensiv engagiert haben. Es muss deprimierend sein.