Andreas Rieger
Die österreichischen Gewerkschaften überraschen derzeit gleich mehrfach: Sie streiken im privaten Gesundheits- und Sozialbereich, und zwar für die Einführung der 35-Stunden-Woche. Und die Tausende von Streikenden sind mehrheitlich junge Pflegerinnen. Wie kommt das?
Die Probleme in den österreichischen Pflege- und Sozialinstitutionen sind ähnlich wie jene in der Schweiz: Der Arbeitsdruck steigt, und die Löhne in der Pflege sind schlecht. Viele Berufsleute steigen deshalb vorzeitig aus. Zwei von drei Pflegenden können sich nämlich nicht vorstellen, bis zur Pensionierung in ihrem Beruf zu bleiben. Viele senken ihr Pensum, obwohl das Einkommen dann ebenfalls sinkt: 70 Prozent arbeiten Teilzeit. Und die Zahl der krankheitsbedingten Absenzen ist hoch. Die Folge: Es können nicht mehr alle Stellen besetzt werden. Der Druck steigt zusätzlich – ein Teufelskreis.
TEUFELSKREIS. Da raus führt nur die 35-Stunden-Woche. Davon waren die Vertrauensleute der beiden Gewerkschaften GPA-djp und Vida überzeugt. Als die Erneuerung des Kollektivvertrags für den privaten Pflege-, Gesundheits- und Sozialbereich anstand, stellten sie deshalb nur diese einzige Forderung: Die Arbeitszeit für eine Vollzeitstelle, die heute bei 38 Stunden liegt, soll um drei Stunden verkürzt werden. Und dies ohne Lohnverlust. Für Teilzeitarbeitende, die ihre bisherige Stundenzahl behalten würden, brächte dies eine Lohnerhöhung von 8,6 Prozent.
Seit Wochen verhandeln die Sozialpartner nun schon den neuen Kollektivvertrag, der für 125’000 Beschäftigte gilt. Aber die Arbeitgeber stellten auf stur. Die konservative Regierungspartei ÖVP hat bei ihnen interveniert. Deshalb antworteten die Gewerkschaften am 12. Februar mit einer ersten Warnstreik- und Demonstrationswelle. Vor der nächsten Verhandlungsrunde vom 2. März folgt nun die zweite Welle.
SIGNALWIRKUNG. Mit der Arbeitszeitverkürzung kamen wir Gewerkschaften in den letzten Jahren nicht voran. Im Gegenteil: Die Arbeitgeber drücken auf Flexibilisierung, auf Arbeitswochen von bis über 60 Stunden. Die Bedeutung dieses österreichischen Arbeitskampfes ist deshalb riesig. Die streikenden Pflegenden sind die Vorkämpferinnen für eine Trendwende auch anderswo. Die GPA-djp ist die österreichische Schwestergewerkschaft der Unia. Und ihre Chefin Barbara Teiber sagt es so: «Was wir im Pflege- und Sozialbereich schaffen, hat Signalwirkung für alle Branchen.»
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.
work korrekt: In der letzten Kolumne zu Finnland hatte sich ein Fehler eingeschlichen: Neben der Ministerpräsidentin sind dort weitere elf Mitglieder der Regierung Frauen und nicht nur vier.