Der Virus hat ihn gepackt: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron predigt die Abkehr vom Neoliberalismus. Wirklich?
BAGUETTE TROTZ ALLEM: Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen weitermachen, wie diese Verkäuferinnen in Paris, während die oberen Klassen schön zu Hause bleiben können. (Foto: Getty)
Was kümmerte es ihn, dass seit drei Jahren Millionen Bürgerinnen und Bürger gegen seine Demontage des Gesundheitswesens, der öffentlichen Dienste und der Rechte der Arbeitenden demonstrieren? Präsident Emmanuel Macron, Produkt des französischen Elitesystems, einer bankrotten SP und der Bank Rothschild, glaubte, seinen Thatcher-Moment zu haben: Mit extremer Polizei- und Justizgewalt versuchte er, die Gewerkschaften und den Protest der Gesellschaft zu brechen. Noch am 8. März liess er eine Frauendemo in Paris zusammenknüppeln. Kurz zuvor hatte er per Dekret eine Abstimmung des Parlaments über seine schauderliche Rentenreform abgewürgt.
Doch dann schlich sich der Corona-Virus in alle Köpfe. Am 12. März wandte sich Macron per TV an die Nation. Sie hörte verblüfft, wie der Präsident, «koste es, was es wolle», die Aufrüstung des Gesundheitswesens versprach, das er gerade krankreformiert hatte. Und Macron weiter: «Eine kostenlose Gesundheitsversorgung unabhängig vom Einkommen, […] und unser Sozialstaat, das sind nicht Kosten, sondern wertvolle Güter.» 2019 hatte er noch gemotzt, die soziale Sicherheit koste «einen völlig irrsinnigen Haufen Geld». Nun tönte er: «Es gibt Güter und Dienste, die den Gesetzen des Marktes entzogen werden müssen.» Aha! Gerade noch war er der schärfste neoliberale Staatsabbauer, Zerstörer und Privatisierer in Europa. Und jetzt meinte er, über Jahrzehnte habe man einem falschen Modell gehuldigt, es sei Zeit, damit «zu brechen». Predigt Macron jetzt die Wende?
KOLLEKTIVER HAUSARREST
Wer Macron schlecht kennt, könnte denken, da habe der Virus einen Staatschef vom Neoliberalismus geheilt. Vier Tage später doppelte Macron nach. Frankreich sei «im Krieg». Es wurde sein Mantra. Deshalb lege er die Rentenreform und den Umbau der Arbeitslosenkassen auf Eis. Die Bürgerinnen und Bürger sollten zu Hause bleiben. Die Polizei werde das kontrollieren. Doch er werde dafür sorgen, dass die Leute Lohn und Job behielten.
Frankreich steht seither unter kollektivem Hausarrest. Als ich zwei Tage nach Macrons Rede zur Apotheke wollte, verlangte ein Polizist meinen «Passierschein», den man von der Website des Innenministeriums herunterladen muss. Ich hatte keinen. Der Polizist: «Ab morgen kostet Sie das 135 Euro.»
ANGST IM BAUCH
Ganz Frankreich zu Hause? Nicht wirklich. Klar arbeiten Pflegepersonal, Ärztinnen, Ambulanzfahrer etc. unter Hochdruck. Oft müssen sie das ohne Masken und Handschuhe tun. Ausgelagertes Reinigungspersonal trat jetzt in den Streik, weil es Krankenhäuser (!) ohne Desinfektionsmittel und Handschuhe reinigen sollte. Hauslieferdienste sind so stark ausgelastet, dass die Lieferfrist bis zehn Tage beträgt. Verkäuferinnen in Supermärkten arbeiten in vielen Fällen ungeschützt. Eine sagte heute zu mir: «Wir haben die Angst im Bauch.» Bei den 110 000 Polizisten und Gendarmen, die Macron auf die Strassen schickt, regt sich Unmut. Ihre Gewerkschaften warnen, sie wollten nicht das «Kanonenfutter» in Macrons Krieg sein.
AUF DEM WEG ZUR ARBEIT
Als jetzt die drei grossen Verbände der Bauunternehmer ihre Baustellen vorläufig einstellen wollten, nannte Macrons Arbeitsministerin Muriel Pénicaud dies «Defätismus» und einen «Skandal». Sie wies die Ämter sogar an, den Bauarbeitern Kurzarbeit zu verweigern. Pénicaud macht auch Druck auf Industrieunternehmen, weiterzuarbeiten. Gleichzeitig hat sie noch schnell die Nacht- und Sonntagsarbeit dereguliert.
Macrons Schutz der Menschen, «koste es, was es wolle», ist also schiere Propaganda. Während in den Spitälern ohne genügende Mittel um Leben gerungen wird, versucht die Regierung, die Produktivität der Wirtschaft mit einem «nationalen, kollektiven Kriegseffort» möglichst hoch zu halten – und nebenbei setzt sie ein paar neoliberale Reformen gegen die Arbeiterschaft durch. Das wird ein paar Zehntausend Leben kosten. Auf den Passierscheinen gibt es eine Rubrik «auf dem Weg zur Arbeit». Die französische Soziologin Anne Lambert formuliert das so: «Das Proletariat wird an die Front geschickt, während die oberen Klassen in ihre Zweithäuser aufs Land flüchten.»