Im November 1918 spitzte sich die Lage in der Schweiz zu. Erstmals drohte ein Landesstreik. Und gleichzeitig wütete die Spanische Grippe. Trotzdem liess das Militär Tausende Soldaten einrücken – gegen die streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter. Am Ende zählte die Schweiz 25’000 Grippe-Tote.
TÖDLICHER ALS KRIEG: Besonders Männer zwischen 20 und 40 Jahren erkrankten an der Spanischen Grippe, viele starben. Militärnotspital in der Aula eines Schulhauses im Jura, um 1918. (Foto: Rotes Kreuz)
Bei der VHTL-Sektion Bern herrschte Trauer: Die Transportarbeiter-Gewerkschaft beklagte im November 1918 den Tod von Emil Schwarz, Hans Kohler und Paul Maurer. Die ersten beiden waren Chauffeure, letzterer Schokoladenarbeiter. «Schnitter Tod» habe Opfer gefordert, stand in der VHTL-Zeitung. In Klammern war die Todesursache angegeben: zweimal Grippe, einmal Erstickungstod. Vermutlich war in allen drei Fällen die Todesursache dieselbe: die Spanische Grippe. Sie raffte zwischen Juli 1918 und Mai 1919 in drei Wellen Arbeiterinnen und Arbeiter in Scharen dahin (siehe Box). Weltweit fielen dem Influenza-Virus schätzungsweise 25 bis 50 Millionen Menschen zum Opfer. Mehr, als in den beiden Weltkriegen umkamen. Es traf damals vor allem die 20- bis 40jährigen.
Die Spanische Grippe griff tief ins Leben der Bevölkerung ein. Unerbittlich schritt sie voran, nichts schien sie stoppen zu können. Ende Juli 1918 waren weite Teile der Schweizer Industrie lahmgelegt. Beim Maschinenbauer Sulzer in Winterthur lag mehr als ein Drittel der 5000 Beschäftigten krank darnieder. In der benachbarten Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik zählte man 100 Opfer. Auch in der Spinnereimaschinen-Fabrik Rieter waren zahlreiche Büezer erkrankt. Die Spitäler waren überfüllt. Ärzte und Krankenschwestern chrampften rund um die Uhr. Die Zahl der Toten stieg rasch an. Der Luzerner Historiker Patrick Kury sagt: «Die Pandemie traf die Schweiz unvorbereitet.» Die Behörden seien überfordert gewesen und hätten chaotisch reagiert. Bundeshilfe gab es nicht.
«Die Spanische Grippe ist die
grausige Begleiterscheinung des
Weltkriegs …»
AUSGEBEUTETE LOHNSKLAVEN
Das behördliche Versagen löste in der Bevölkerung Erbitterung aus. Die Gemeinden schlossen Schulen, Kinos, Theater, Kirchen und verboten Versammlungen. Aber die Beizen blieben offen. Und auch für die Industrie gab es keine Einschränkungen. Unter den Textilarbeiterinnen und -arbeitern gehe der «Würgeengel» um, hiess es daher in der Zeitung «Die Gewerkschaft» in Anspielung auf die Bibel. Der Kommentator sah die Pandemie als «grausige Begleiterscheinung des Weltkriegs», die nun die hungernden, schlecht entlöhnten und ungeschützten Büezerinnen und Büezer dahinraffe. Polemisch schrieb er über den simplen Rat von Ärzten, sich ausreichend zu ernähren: «Kann ein Textilarbeiter für seine Familie noch Eierspeisen beschaffen? Kann er ihr genügend Milch zu trinken geben? Unsinn!» An der Grippe sei der Krieg schuld, an den vielen Opfern unter den Textilarbeitern aber der Geldhunger der Fabrikanten: «Sie beuten den Körper ihrer Lohnsklaven niederträchtig lange aus, wiewohl sie wissen, dass er kraftlos und ausgemergelt ist.»
Die Gewerkschaften forderten volle Lohnzahlung für Grippekranke, mehr Schutz gegen eine Ansteckung in den Betrieben sowie bessere Löhne fürs Pflegepersonal. Versammlungsverbote sahen sie durchaus kritisch. Die Zeitung der Metallgewerkschaft Smuv (einer Vorgängerin der Unia) argumentierte so: Man könne den Arbeitern nicht verbieten, sich abends zu treffen, wenn sie den ganzen Tag miteinander in der Werkstätte gearbeitet hätten. Die Ansteckungsgefahr sei ja am Abend nicht grösser als während der neun Stunden Arbeit im Betrieb. Besser, als Versammlungen zu verbieten, müsse der Bund Geld zur Linderung der sozialen Not lockermachen, so die Forderung.
Sozialdemokratische Medien wie das Zürcher «Volksrecht» oder die «Berner Tagwacht» nutzten die Spanische Grippe, um die verhasste Militärführung anzuprangern. Diese hatte damals bereits gegen einen möglichen Landesstreik mobilgemacht. Tausende von Soldaten mussten einrücken – ungeachtet des hohen Infektionsrisikos. Oft waren die jungen Männer gezwungen, in improvisierten Unterkünften auf faulem Stroh zu lagern. Dabei steckten sie sich prompt massenhaft an. Am Ende der Epidemie im Mai 1919 zählte man 1500 tote Soldaten. Im Visier der Kritik von links stand besonders der Chef des Sanitätsdienstes, Carl Hauser. Er habe vollkommen versagt. Obwohl auch ein Reformer, war Hauser ein typischer Militärgrind jener Zeit. So, wie es der damalige General Ulrich Wille gern sah: preussischer Drill, gepaart mit unbedingtem Gehorsam. Die Linke warf dem Militär deshalb vor, die Epidemie durch die massenhafte Mobilmachung der Soldaten gegen den drohenden Landesstreik noch zu verstärken.
«… die nun die hungernden und
ungeschützten Arbeitenden dahinrafft.»
SEUCHENGEFAHR DURCH TRUPPEN
Bei Arbeiterführer Robert Grimm und dem Oltener Aktionskomitee war die Pandemie nur am Rand ein Thema. Sie hatten genug mit der Ausarbeitung der sozialen Forderungen und der Vorbereitung des Generalstreiks zu tun. Als die zweite, noch stärkere Grippewelle im Oktober 1918 durch die Schweiz zog, sah sich Grimm mit Vorwürfen von Bürgerlichen eingedeckt. Der Streik sei eine «unverantwortliche Gefährdung unseres Volkes», schmetterte ihm ein rechter Nationalrat entgegen. Volksversammlungen würden nur die Grippe vermehren. Grimm war aber nicht auf den Mund gefallen: «Sie haben durch die Mobilisation der Truppen die Seuchengefahr vermehrt und Hunderte der ansteckenden Krankheit und der Todesgefahr überantwortet», gab er scharf zurück. Und: «Wir weisen den Vorwurf energisch zurück und lassen uns da nichts vorwerfen.»
KATASTROPHE: Im Oktober 1919 zählte die Schweiz fast 300 000 Infizierte. (Quelle: Armin Rusterholz / Grafik: work)
NUR DIE TOTEN SOLDATEN ZÄHLTEN
Die Grippetoten wurden so zu einem Politikum. Aber halt eben nur jene, die im patriotischen Dienst standen, nämlich die wehrhaften Soldaten der Armee. Von den viel zahlreicheren anderen Opfern der Seuche war in der politischen Auseinandersetzung kaum die Rede. Historiker Patrick Kury schreibt: «Kaum war der Landesstreik niedergeschlagen, interessierten nur noch die grippetoten Soldaten, nicht jedoch die Zivilisten, geschweige denn die ebenfalls in hoher Zahl gestorbenen Arbeiterinnen und Arbeiter.»
Schlimmer noch: Die Bürgerlichen schoben der Landesstreik-Leitung vom Oltener Aktionskomitee sogar die Schuld an den Grippetoten in die Schuhe. Namentlich der damalige Bundespräsident Felix Calonder. Im Nationalrat tönte das so: «Die Anstifter müssen sich heute bewusst sein, welch namenloses Leid und Unglück sie über unser Volk gebracht haben, dessen pflichtgetreue Söhne im Militärdienste zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung so zahlreich der heimtückischen Grippe zum Opfer gefallen sind.»
Zynisch, wenn man bedenkt, dass der Motor des Landesstreiks die damalige materielle Not der Bevölkerung war: Es fehlte an Kohle und Nahrungsmitteln, viele Familien litten Hunger, es gab keine soziale Absicherung, sondern nur Suppenküchen für die Armen. Die Löhne waren tief und die Arbeitslosigkeit hoch, während die Oberschicht fette Dividenden einstrich und es sich trotz Kriegszeiten gutgehen liess. Kein Wunder, schrieb ein Kommentator damals anklagend: «Wann wird der Racheengel erscheinen, der dem verruchten Ausbeutungssystem, dem Hauptschuldigen, den Garaus machen wird?»
Spanische Grippe 1918/19: Demographische Katastrophe
Es herrschte kein Krieg. Und dennoch gab es 25’000 Tote. Allein in der Schweiz. Und das innerhalb von nur neun Monaten. Die Spanische Grippe von 1918/19 war die grösste demographische Katastrophe der modernen Schweiz. So urteilt heute die Geschichtswissenschaft. Dies, nachdem diese Pandemie lange Zeit kaum ein Thema war. Sie stand vollständig im Schatten des Ersten Weltkriegs, der «Ur-Katastrophe» des 20. Jahrhunderts, und ebenso im Schatten des Landesstreiks vom November 1918, des grössten politischen Konflikts der jüngeren Schweizergeschichte. Im damaligen Umgang mit der Spanischen Grippe widerspiegeln sich die Klassenkämpfe jener Zeit.