Jean Ziegler
Abba Kyari war ein temperamentvoller, beleibter, nicht unsympathischer Mann aus dem islamischen Norden von Nigeria. Er gehörte zum Volk der Fulani. Der 67jährige war einer der einflussreichsten Männer des Landes. Sein Freund Muhammadu Buhari ist Staatspräsident in Abuja. Er machte Kyari zu seinem Kabinettschef. An einem schönen Märzmorgen flog Kyari im Präsidentenflugzeug nach London.
Er wollte sich dort in einer Privatklinik auf den Coronavirus testen lassen. Doch die britischen Behörden verweigerten dem Präsidentenflugzeug das Landerecht. Unterstützt von Buhari, provozierte Kyari einen wüsten diplomatischen Konflikt.
Als die britische Presse seine sündhaft teure private Gesundheitsfürsorge kritisierte, antwortete er: Er sei nach London geflogen, um das überlastete nigerianische Gesundheitssystem nicht noch mehr zu belasten.
Nach der Rückkehr in sein Land wurde die Corona-Infektion bei ihm festgestellt. Er starb am 17. April.
Anstatt sich um das zerrüttete Gesundheitssystem im eigenen Land zu kümmern, lassen sich
afrikanische Potentaten
in Europa pflegen.
GESUNDHEITSTOURISMUS. Der Konflikt um das Landerecht der Maschine Kyaris ist exemplarisch: Anstatt sich um das völlig zerrüttete Gesundheitssystem im eigenen Land zu kümmern, lassen sich afrikanische Potentaten in Europa oder in den Vereinigten Staaten pflegen. Auch Schweizer Spitäler profitieren glänzend von diesen Touristinnen und Touristen. Der kamerunische Staatschef Paul Biya verbringt jährlich mehrere Wochen in einer Klinik in Genolier VD. Die algerischen und die marokkanischen Herrscher bevorzugen das Genfer Kantonsspital.
Nigeria ist der bevölkerungsreichste Staat Afrikas und der achtgrösste Erdölproduzent der Welt. Geld ist also genug da, doch das Land investiert lediglich lächerliche vier Prozent seines Budgets in die Gesundheitsvorsorge. Auf 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner kommen gerade 180 Spitalbetten und nicht 5000, wie es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt.
Überall auf dem Kontinent zerstört eine himmelschreiende Korruption die Gesundheitsvorsorge, und die meisten Schutzregeln gegen die Seuche sind überhaupt nicht anwendbar. Ein Drittel der 950 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner lebt laut Uno in sogenannt informellen Behausungen, das heisst in menschenunwürdigen Hütten. Wem sollte es etwa gelingen, in den überfüllten, stinkenden Slums der kenianischen Hauptstadt Nairobi die «soziale Distanz» von zwei Metern einzuhalten?
Laut der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno, sind 35,2 Prozent der afrikanischen Bevölkerung permanent unterernährt. Ihre Immunkräfte, die sie dem Coronavirus entgegensetzen sollten, sind daher aufs schwerste geschwächt.
RADIKALER PROTEST. So schrecklich die Seuche im schutzlosen Afrika wahrscheinlich wüten wird, so sicher ist der Aufstand der afrikanischen Völker. In bald allen Hauptstädten mehren sich die Protestmärsche, die radikal-kritischen Stimmen. Sie fordern massive staatliche Investitionen in die nationalen Gesundheitssysteme, das sofortige Ende des elitären Gesundheitstourismus und den Sturz ihrer korrupten Regenten.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neustes Buch ist: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.