Jean Ziegler
Herr Yu Jianhua ist ein blitzgescheiter, humorvoller, fröhlicher Mensch. Er ist diskret und von ausgesuchter Höflichkeit. Er amtet seit Februar 2018 als Botschafter der Volksrepublik China beim Europäischen Sitz der Uno in Genf. Die meisten seiner Vorgänger waren stramme, oft ziemlich brutale Parteibürokraten. Insbesondere Botschafter Ma Zhaoxu hatte eine richtige Pitbull-Mentalität. Sobald im Uno-Menschenrechtsrat die damalige amerikanische Botschafterin ihr Referat beendet hatte, griff Ma Zhaoxu sie lautstark und häufig auch unflätig an.
Der internationale Einfluss Washingtons schmilzt wie Schnee im Frühling.
SOFTPOWER. Der Übergang von Ma Zhaoxu zu Yu Jianhua entspricht einer radikalen Wandlung der chinesischen Diplomatie. Dem arroganten Grossmachtvokabular folgt die Strategie der «Softpower». In der Diplomatensprache heisst das: die Einflussnahme durch diskrete Infiltration anstelle von politischen oder militärischen Drohungen.
Als Berater des Menschenrechtsrates erlebe ich den rasant wachsenden Einfluss Chinas in den internationalen Organisationen.
«America First»: Diese Entscheidung von Donald Trump, gepaart mit seiner bodenlosen Verachtung der multilateralen Diplomatie, bedeutet eine unerwartete Segnung für die Volksrepublik. Dort, wo sich die USA zurückziehen und ihre Beiträge nicht mehr bezahlen, springt China in die Lücke.
Seit 2017 haben sich die USA aus dem 2015 in Paris abgeschlossenen Klimapakt zurückgezogen. Sie haben den Nuklearvertrag mit Iran gekündigt, die Unesco, den Menschenrechtsrat, den Globalen Migrationspakt und die Spezialorganisation zur Bekämpfung von Aids (Unosida) verlassen. Die Uno-Flüchtlingshilfe für die Palästinenser (UNRWA) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erhalten aus Washington kein Geld mehr.
TRUMPS ÜBERMUT. Die Konsequenzen dieser übermütigen Selbstisolation? Der internationale Einfluss Washingtons schmilzt wie Schnee im Frühling. Trumps Entscheidung, die US-Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, wurde 2019 von der Uno-Generalversammlung mit grosser Mehrheit verurteilt. In der Internationalen Organisation für Migration (IOM) unterlag Trumps Kandidat für die Direktion einem von China unterstützten portugiesischen Gegenkandidaten. Und an ihrer Generalversammlung im letzten Jahr wählte die Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) in Rom anstelle von Trumps Mann einen chinesischen Vertreter zum neuen Generaldirektor.
Die Uno-Charta wurde in einer stürmischen Augustnacht 1941 vor der Küste Neufundlands auf dem US-amerikanischen Kreuzer Augusta von Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt entworfen. Sie ist ein Erbgut westlicher Zivilisation, genauer: der europäischen Aufklärung. China ist Lichtjahre von einem demokratischen Rechtsstaat entfernt. Ihre «Softpower» ist lebensbedrohend für die Uno.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neustes Buch ist: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
Die Gewichte in der Welt verschieben sich und folglich auch der UNO. Möchte Jean Ziegler den Status quo von 1945 festschreiben, als die Kolonialmächte – wie „aufgeklärt“ auch immer – noch unumschränkt herrschten? Geht nun wegen China der Westen und mit ihm die UNO unter? Letztlich ist Jean Ziegler doch ein Eurozentriker geblieben.