Zwei Gerichte haben das Berner Inselspital wegen Verstössen gegen das Gleichstellungsgesetz verurteilt. Doch der Insel-Konzern trickst das Urteil aus. Das will sich Ärztin Natalie Urwyler (46) nicht bieten lassen.
NATALIE URWYLER: «Ich will, dass wir endlich über den riesigen ökonomischen Schaden reden, der entsteht, weil wir Frauen immer noch als Zuständige für Kinder und Heim gesehen und aussortiert werden.» (Foto: Olivier Lovey)
Eigentlich hätte Natalie Urwylers Kampf für Gleichstellung im Sommer 2018 endlich zu Ende sein sollen. Vier zermürbende Jahre lang hatte die Ärztin da schon vor Gericht um ihren Job gerungen. Die Leitung des Inselspitals hatte Urwyler geschasst, nachdem sie sich intern gegen die Diskriminierung von Frauen und Verstösse gegen den Mutterschutz gewehrt hatte (work berichtete: rebrand.ly/urwyler).
Gestützt auf das Gleichstellungsgesetz, machte Urwyler eine Rachekündigung geltend. Und bekam auf ganzer Linie recht. Zuerst vom Berner Regionalgericht, dann vom Berner Obergericht. Beide Instanzen machten klar: Die Insel hat mit Urwylers Entlassung gegen das Gesetz verstossen. Und muss der Ärztin ihren alten Arbeitsplatz zurückgeben. So, wie es das Gleichstellungsgesetz vorsieht.
URTEIL IGNORIERT
Das Urteil ist rechtskräftig. Und trotzdem wird sich nun bald wieder ein Gericht mit dem Fall beschäftigen. Urwyler klagt erneut. Und führt an, dass sich der Insel-Konzern über den Richtspruch hinweggesetzt habe.
Das Spital stellte die Ärztin nach dem Urteil 2018 zwar wieder ein – aber auch direkt wieder frei. Deshalb arbeitet Urwyler bis heute am Walliser Kantonsspital, wo sie nach der Insel-Entlassung 2014 wieder eine Stelle fand. Allerdings nicht wie vorher als Oberärztin in der Anästhesie. Sondern als Assistenzärztin zu einem Bruchteil des früheren Lohns (siehe Box).
Die Lohndifferenz müsste die Insel eigentlich bezahlen, weil Urwyler durch das Urteil formal noch immer dort angestellt ist. Auf einen Teil dieses Geldes warte sie aber bis heute, sagt Urwyler. Und nicht nur das: Weil das Inselspital Urwyler nicht auf ihren Posten zurückkehren lässt, kann sie auch ihre frühere Forschungsarbeit nicht wiederaufnehmen. Ohne die ist ein weiterer beruflicher Aufstieg kaum möglich. Und die Karriere am Ende.
Deshalb verlangt Urwyler jetzt Schadenersatz. Es ist die Ultima Ratio, das letzte Mittel, das das Gleichstellungsgesetz vorsieht. Das Inselspital teilt auf Anfrage von work mit, dass noch keine Schadenersatzklage eingegangen sei. «Wir können daher keine Stellung dazu beziehen.» Die geschuldete Lohndifferenz werde voll bezahlt. Für Natalie Urwyler ist klar: «Die Schweiz ist ein Rechtsstaat. Wer verurteilt wird, muss sich daran halten. Das gilt für ein Unternehmen genauso wie für eine Privatperson.»
«Spätestens wenn eine Frau Mutter wird, landet sie auf dem Abstellgleis.»
MILLIONENSCHADEN
Es geht Urwyler aber auch noch um etwas anderes: Sie will, dass mit ihrer Klage endlich sichtbar wird, wie viel es eine Frau kostet, wenn sie aus dem Beruf gedrängt wird, nur weil sie eine Frau ist.
In Natalie Urwylers Fall sind das enorme 5 Millionen Franken. So viel wird sie bis an ihr Lebensende weniger haben, als wenn sie ihre Karriere hätte fortsetzen können. Alleine mehr als 900’000 Franken davon fehlen ihr in der AHV und der Pensionskasse. Und damit letztlich auch den Sozialwerken. Und das «ist noch konservativ gerechnet», sagt Urwyler. Denn: Im Berechnungsmodell wurde ihr aktueller und künftiger Lohn «nur» mit dem einer «Männer-Minimalkarriere» verglichen. Tatsächlich bestand für Urwyler aber die reale Chance, noch weiter nach oben zu kommen. Sie wurde als grosses Talent gehandelt und war auf gutem Weg, Professorin und Chefärztin zu werden. Bis zu ihrer illegalen Entlassung.
UMDENKEN GEFORDERT
Wenn sie die Klage gewinnt, «soll das Geld anderen Frauen zugute kommen», sagt Urwyler. Aber: «Ich will, dass wir endlich über den riesigen ökonomischen Schaden reden, der entsteht, weil wir Frauen immer noch als Zuständige für Kinder und Heim gesehen und aussortiert werden.» Dieser Schaden treffe letztlich alle. Schliesslich investiert der Staat viel Geld in gute Ausbildungen, ein Medizinstudium etwa kostet bis zu 1 Million Franken. «Aber spätestens wenn eine Frau Mutter wird, landet sie auf dem Abstellgleis.» Das findet Urwyler nicht nur gleichstellungspolitisch unsinnig, sondern auch wirtschaftlich.
Unterstützt wird die Ärztin von prominenten Köpfen wie der CVP-Frauen-Präsidentin Babette Sigg und der ehemals obersten Bäuerin Christine Bühler. Mit SP-Ständerat und Ex-Gewerkschaftsbunds-Chef Paul Rechsteiner ist auch ein Mann an Bord. Das freut Urwyler besonders, denn für sie ist klar: «Das hier ist kein Kampf zwischen den Geschlechtern. Sondern ein Kampf zwischen Vorgestern und Heute.»
Oberärztin Urwyler: Zerstörte Karriere
11 Jahre lang arbeitete Natalie Urwyler am Berner Inselspital. Zuletzt unbefristet als Oberärztin der Klinik für Anästhesiologie und Schmerztherapie. Sie lehrte an der Universität, forschte, war angehende Professorin. Trotzdem fand sie nach ihrer Entlassung keine Stelle mehr. Bei einem Vorstellungsgespräch erfuhr die Ärztin: Man sei vor ihr gewarnt worden. Schliesslich beginnt Urwyler als Assistenzärztin in einem anderen Fachgebiet, um nicht länger arbeitslos zu sein. Sie sagt: «Sie haben es geschafft, dass ich noch einmal ganz vorne anfangen musste.»
MÄCHTIGE FEINDE. Weil die Ärztin an ihrer Klage festhielt, fuhr die Insel-Leitung offenbar noch schwerere Geschütze auf. Urwyler erfuhr, dass mächtige Lobbyisten gegen sie arbeiten. Namentlich: Die Firmen «Furrer Hugi» und «Hirzel. Neef. Schmid». Top-Profis, die normalerweise etwa im Bundeshaus die Fäden ziehen, um Gesetze im Sinne ihrer Kundinnen und Kunden zu beeinflussen oder zu Fall zu bringen. Für Urwyler ist klar: Die Lobbyisten sollten sie im Auftrag der Insel in den Medien schlechtmachen. Und damit letztlich ihre Chancen vor Gericht mindern. Geklappt hat das nicht. Die Richter gaben Urwyler schliesslich recht. Und mittlerweile kann Urwyler im Wallis auch wieder als leitende Ärztin in der Anästhesie arbeiten.
Das Inselspital weist die Vorwürfe zurück: Es sei nie aktiv gegen Frau Urwyler kommuniziert worden. Aufgrund des grossen Medieninteresses hätten «Diskussionen bezüglich Kommunikation stattgefunden». Immer mit dem Ziel, «die Position der Insel» zu vertreten, «nie jedoch gegen Frau Urwyler zu agieren».
Juristin Elisabeth Freivogel über den Urwyler-Prozess: «Das hat es in der Schweiz noch nie gegeben»
Das Urteil wird Leitplanken für die Rechtsprechung setzen, so Juristin Freivogel.
Juristin Elisabeth Freivogel.
work: Frau Freivogel, Sie haben selbst viele Frauen bei Gleichstellungsklagen vertreten. Nach mehr als 25 Jahren Gleichstellungsgesetz ist die Ärztin Natalie Urwyler die erste Frau überhaupt, die diesen Weg bis ganz zu Ende geht. Wie beurteilen Sie den Fall?
Elisabeth Freivogel: Das Inselspital wurde verpflichtet, Frau Urwyler wiedereinzustellen, ihr ihre Forschungstätigkeit zurückzugeben und damit auch die Chance auf eine Professur. Über dieses Urteil hat sich die Insel illegalerweise hinweggesetzt. Nun sieht das Gesetz als letztes Mittel eine Schadenersatzklage vor. Um zu verhindern, dass ein Unternehmen ein Urteil einfach ignorieren kann. Frau Urwyler klagt jetzt also, damit das Recht durchgesetzt wird. Das ist eine aussergewöhnliche Situation und hat es so in der Schweiz noch nie gegeben. Auch, weil Gleichstellungsklagen oft unheimlich aufreibend sind. Eine Frau braucht dafür viel Mut, Ausdauer und einen starken Rückhalt.
Frau Urwyler hat gewonnen. Trotzdem ist es jetzt wieder an ihr, dafür zu sorgen, dass das Urteil auch tatsächlich umgesetzt wird? Das ist doch unglaublich!
Es ist eine absolute Zumutung, aber rechtlich der einzige Weg, der bleibt.
Wie kommt das?
Es fehlt, was wir schon vor 30 Jahren gesagt haben: eine eigenständige Behörde, die von sich aus Kontrollen vornehmen und wenn nötig klagen oder Sanktionen verhängen kann. Das würde die betroffenen Frauen sehr entlasten. In gewissen Ländern, etwa Kanada, Schweden oder Dänemark, gibt es solche Stellen. In der Schweiz war und ist das aber bis heute politisch chancenlos.
Wenn Frau Urwyler gewinnt: Ändert sich etwas für andere Frauen?
Ja, da bin ich mir sicher. Wenn eine Gleichstellungsklage einmal bis zum Ende durchgezogen wird und wenn es, wie bei Frau Urwyler, um Millionen geht, dann merken andere Unternehmen: Wir können uns nicht einfach über das Gesetz hinwegsetzen. Sie werden sich überlegen: Wollen wir das Risiko einer solchen Klage eingehen? Oder gehen wir selbst über die Bücher?
Das Urteil wird ausserdem einen Präzedenzfall schaffen. Und damit die Leitplanken für die künftige Rechtsprechung setzen. In der Vergangenheit haben wir gesehen: Das bringt Erleichterungen. Die ersten Gleichstellungsklagen in den 1980er Jahren waren noch sehr risikoreich. Mittlerweile ist der Weg für eine Klage etwas weniger steinig. Und viele Unternehmen sind sich heute bewusst, dass sie mit Konsequenzen rechnen müssen, wenn sie gegen das Gleichstellungsgesetz verstossen. Auch deshalb enden viele Fälle inzwischen mit einem Vergleich und ohne langwierigen Prozess.
* Elisabeth Freivogel ist Juristin, Ehrendoktorin an der Universität Basel und Gleichstellungsexpertin. Sie hat die ersten grossen und erfolgreichen Lohngleichheitsklagen geführt.