Der grosse Helmut Hubacher (1926–2020) ist tot
«Himmelherrgottdonner!»

In den meisten ­Nachrufen sonnen sich vor allem die Nachrufenden. Auch jetzt wieder bei SP-Urgestein ­Helmut Hubacher. work ­versucht ihn deshalb vor ­allem selber zu Wort ­kommen zu lassen. Er hatte ja auch immer viel zu sagen.

GREDIUSÄ-HUBACHER: Genussvoll nahm er als SP-Parteichef manchmal auch die eigenen Genossen ins Visier, zum Beispiel Moritz Leuenberger: «Wenn der Moritz uns mit seinem gequälten Gesicht auf dem Bildschirm anschaut, möchte man ihm am liebsten ein Aufputschmittel geben.» (Foto: Peter Mosimann)

Mit 90 sagte er es im work-Interview so: «Ich bin 1946 den Juso beigetreten, ein Jahr später der SP. Die Partei gibt es seit 129 Jahren, ich bin also mehr als die Hälfte dabei.» 1926 kam er auf die Welt, und 2020 starb er: Fast ein ganzes Jahrhundert hat Politiker und Gewerkschafter Helmut Hubacher an sich vorbeiziehen sehen. Und was für ein Jahrhundert! Weltwirtschaftskrise, Armut & Arbeiterbewegung, Faschismus, Zweiter Weltkrieg, Kommunismus, Sowjetunion, Kalter Krieg & Antikommunismus, Wirtschaftswunder, 1968 und Aufbruch der neuen Linken. Schwarzenbach und Barackenschweiz. Mauerfall & Fichenskandal. Aufstieg der SVP. Aufstieg des Neoliberalismus. Angriff auf AHV und Sozialstaat. Der erste Frauenstreik. Und immer wieder Blocher. Das Nein zum EWR. Schliesslich kam das Erwachen eines neuen politischen Frühlings: Klimabewegung und zweiter Frauenstreik.

Über all das hat Hubacher schreibend geredet. In seinen Kolumnen, die er bis zu allerletzt schrieb. Und in seinen neun Büchern. Politprosa auf 2209 Seiten: Hubacher war ein grosser Geschichtenerzähler. Immer wieder schickte er auch aufmunternde Briefe und Karten. Seine letzte kam im Mai 2020. Auf der Vorderseite eine Katze auf der Mauer auf der Lauer. Hubacher war ein work-Fan, hat uns oft zitiert und empfohlen.

Und immer wieder schrieb Hubacher auch über seine Frau Gret, die ihn, den einstigen AKW-Befürworter, sozusagen über Nacht zum AKW-Gegner gemacht und mit den Worten nach Kaiser­augst geschickt hatte: «Da passiert was! Du gehörst an den Tatort.»

Gar keine Unterstützung wollte Gret ihm allerdings beim Blocher-Buch geben. Begründung: «Mir hängt er zum Hals heraus!» Hubacher notierte: «So viel zur familiären Atmosphäre!» Gret hatte schon bei Otto Stich «so unerbittlich» reagiert. Weil dieser seine Wahl in den Bundesrat angenommen hatte. Die Bürgerlichen hatten ihn gewählt und damit die offizielle SP-Kandidatin ­Lilian Uchtenhagen abgestraft. Sie wäre die erste Bundesrätin gewesen. Für Hubacher, der Uchtenhagen gepusht hatte, war das eine traumatische Erfahrung. Er schrieb: «Einmal mehr hatte die bürgerliche Mehrheit der Bundesversammlung die SP brüskiert. Es war genau das eine Mal zu viel gewesen.» Aus Protest diskutierte die SP danach den Gang in die Opposition.

Das Uchtenhagen-Drama hatte auch Gret Hub­acher nie vergessen, deshalb ihre Unerbittlichkeit. Hubacher: «Wenn sie ‹dem Stich› im Coop-Gartencenter begegnete, demonstrierte sie grusslos ihr Missfallen. – ‹Das musste sein›, deckelte sie mich auf die Frage: ‹War das nötig?›.»

EINE GESCHICHTSLEKTION FÜR BLOCHER

«Hubachers Blocher» erschien trotzdem. Mit einer gesalzenen Hubacher-Antwort auf Blochers Pöbelei, die SP habe ja noch nie was für die Schweiz geleistet. Unter dem hübschen Titel «Die SP gab es schon vor Blocher» erteilte der SP-Frontmann dem SVP-Führer folgende Geschichtslektion:

«Mein Grossvater machte als Fabrikarbeiter am Generalstreik mit. Und der Generalstreik hat die Schweiz verändert. Dem Bürgertum war die machtvolle Demonstration gehörig in die Knochen gefahren. Bereits 1919 ist die erste Forderung der Streikenden in Erfüllung gegangen: Im Nationalrat wurde der Proporz eingeführt.

1920 nahm der Bundesrat die zweite Forderung des Streikkomitees auf: die 48-Stunden-Woche für Fabrikarbeiter. Dann war die Altersvorsorge dran. Der Durchbruch gelang allerdings erst 1947. Im Januar 1948 wurden dann die ersten Renten ausbezahlt. Daran erinnere ich mich gut. Der Briefträger brachte auch meinen Grosseltern erstmals ‹die AHV›: 80 Franken. Für den politisch sehr engagierten Grossvater war es ein grosser Tag.

Mit dem Generalstreik sind die ersten Bausteine für das Fundament des Sozialstaats geliefert worden. SP und Gewerkschaften verdienen also ein grosses Kompliment.»

Der Schock der Schwarzenbach-Initiative sass ihm in den Knochen.

UMARMEN BESSER ALS AUSGRENZEN

Hubacher war ein stolzer Sozialdemokrat. Aber auch ein vorsichtiger. Und einer, der stets Anerkennung suchte. Deshalb hatte er auch seine Mühen mit der neuen Linken. Mit den Progressiven Organisationen Schweiz (Poch) etwa oder mit den Trotzkisten. Für ihn war Sozialdemokratie immer eine «stark abgeschwächte Form von Sozialismus» (zitiert nach dem österreichischen Gewerkschafter und Journalisten Günther Nenning).

Weniger gut fand Hubacher die «linke Kombination von ungeheuer viel Sozialismus und ungeheuer wenig Leuten, die für so viel Sozialismus sind». Zwar setzte er sich entschieden vom Rechtskurs der deutschen SPD unter Gerhard Schröder ab: «Die Agenda 2010 von Schröder war ein bürgerliches Programm zugunsten der Wirtschaft auf Kosten der Arbeitenden.» Doch die rechten Flügelkämpfer in der SP Schweiz nahm er auch mal in Schutz. Zum Beispiel Simonetta Sommaruga und Ruedi Strahm, als sie 2001 mit dem «Gurtenmanifest» kamen. Und darin verlangten, die SP müsse endlich eine «Beschränkung der Zuwanderung» akzeptieren.

Das sprach Hubacher aus dem Herzen. Ihm sass noch der Schock der Schwarzenbach-Initiative in den Knochen. Und wie damals viele Büezer von SP und Gewerkschaften abgefallen waren. Und Ja gestimmt hatten. Hubacher: «Bei meinen ersten Reden gegen die Initiative schlug mir aus den eigenen Reihen heftiger Widerspruch entgegen. Erst dann realisierte ich, wie tief der Nationalismus bereits vorgedrungen war – gerade auch in der Arbeiterschaft.» Als Bahngewerkschafter hörte Hubacher die Bähnler fluchen, über die «elenden Tschinggen und Gotthard-Indianer», die mit ihren Koffern voller Salami ihre Züge verstopften.

Dieses Schwarzenbach-Trauma hatte Hubacher nie überwunden. Also stand er bei der Zuwanderung auf die Bremse. Statt daraus die Lehre zu ziehen, dass sich die Linke eben für eine nichtfremdenfeindliche Regelung der Zuwanderung einsetzen muss. So, wie SP und Gewerkschaften dies später erfolgreich taten: für die Personenfreizügigkeit mit flankierenden Massnahmen. Lieber donnerte Hubacher gegen die «Herz-Jesu-Sozialisten», für die «Migrationspolitik natürlich kein Thema» sei.

Das schmeckte den Linken links und innerhalb der SP gar nicht. Sie schimpften Hubacher einen Angsthasen und Linkenfresser. Und doch waren sie es, die schliesslich die SP retteten, als sie Ende der 1980er Jahre ziemlich blutleer am Boden lag. All die ehemaligen Poch- und APO-Leute waren wie ein Jungbrunnen für die SP, als sie dieser doch noch beitraten. Und sie waren auch Parteichef Hubachers persönlicher Jungbrunnen. Irgendwann sah er ein, dass Umarmen die zukunftsträchtigere Strategie war als Ausgrenzen. Er setzte Ruedi Strahm als SP-Generalsekretär ab und holte André Daguet. Dieser sass später in der Unia-Geschäftsleitung. Dem Ganzen waren politische Differenzen mit Strahm vorausgegangen. Dieser hatte 1986 in seinem Buch «Vom Wechseln der Räder am fahrenden Zug» mit der Parteispitze abgerechnet und wollte die Partei nach rechts ziehen. Daguet dagegen stand dezidiert links und weibelte für Peter Bodenmann als Nachfolger Hubachers. Bodenmann kam ebenfalls von links her, vom roten Kritischen Oberwallis.

AUCH MILITÄRS SIND MENSCHEN

Helmut Hubacher und das Militär, das war kein Dreamteam. «Militärs sind Wiederholungstäter», schrieb er. Und: «Auch beim F/A-18-Kampfbomber ­erliessen sie ein Denkverbot. Der Entscheidungsprozess verläuft stets nach demselben Raster: Die Militärs entscheiden. Dann gilt es, den Departementsvorsteher zu gewinnen. Vorbereitet wird das ­Rüstungsgeschäft in der Militärkommission des National- und Ständerates. Deren Mitglieder erhalten viele Berichte, viele Grafiken, wenig Informationen. Mit zwei Ausnahmen schluckte die bürgerliche Parlamentsmehrheit in meinen 34 Jahren im Nationalrat deshalb alles, was vom EMD kam.» Ja, das Militärdepartement machte Hubacher richtig stinkig.

Umso mehr erfreute er sich dann an der In­itiative «für eine Schweiz ohne Armee». Und sinnierte: «Zwar wurde die GSoA-Initiative deutlich abgelehnt. Aber eine Abfuhr, wie die Armeeführung erhofft hatte, war es nicht. Mit 36 Prozent gab es zu viele Ja-Stimmen. Die Auswertung des Abstimmungsresultats war für die Militärs niederschmetternd. Die jungen Soldaten hatten der In­itiative mehrheitlich zugestimmt. Die alten, die Menschen der Aktivdienstgeneration, haben die Armee gerettet. Von diesem Sieg hat sich die Armee seither nie mehr erholt.»

DER DOPPELGÄNGER

Hubacher war ein Scharfschütze, wenn auch nur ein verbaler. Genussvoll zielte er manchmal auch auf die eigenen: «Wenn der Moritz uns mit seinem gequälten Gesicht auf dem Bildschirm anschaut, möchte man ihm am liebsten ein Aufputschmittel geben.» Vermerkte Hubacher einst. Hubacher über Ueli Maurer: «Maurer hat eine gewisse Bauernschläue, ist auf den ersten Blick ein Gmögiger. Aber er ist heimtückisch und ein Meister im Sich-Rausreden. Ein Leichtmatrose.» Und Hubacher über Jean Ziegler: «Einen Ziegler verträgt es, aber zwei nicht!» Hubachers Grediusä war keine Masche. So war er eben.

Und dann ist da noch die Geschichte seines Doppelgängers. Kam ein Mann in einer Beiz auf Hubacher zu und fragte ihn, wie denn seine Ferien in Rhodos gewesen seien. Hubacher, ganz verdutzt, winkte ab, er sei noch gar nie dort gewesen. Der Mann müsse ihn verwechseln. Doch dieser liess nicht locker. Doch doch, er habe Hubacher ja selber dort gesehen. Das könne unmöglich sein, wiederholte Hubacher. Doch der andere beharrte und meinte, er könne ja verstehen, dass Hubacher nicht darüber reden möge, schliesslich sei er ja auch nicht mit seiner Frau in Rhodos gewesen, sondern mit einer Blondine! Jetzt lupfte es Hubacher aber den Hut: «Himmelherrgottdonner! bellte ich zurück, was erlauben Sie sich eigentlich, besser wissen zu wollen, wo ich meine Ferien und dann erst noch mit einer anderen Frau verbracht haben soll!» Schon gut, meinte der andere nun in einem Tonfall, den man anschlägt, um mit einer kranken Kuh zu reden.

Erst Jahre später begriff Hubacher des Rätsels Lösung: Er hatte einen Doppelgänger! Doch sie begegneten sich erst Jahre später. Und Helmut Hubacher notierte: «Es war wie ein Hammer. Erstaunt schaute ich ihn an, musterte das Gesicht, die Haare, die Kopfform, die Augen, und fast miteinander stellten wir fest: «Wir gleichen einander wirklich!»

Alle Zitate stammen aus Hubachers Büchern oder aus dem work.

1 Kommentare

  1. Peter Bitterli 17. September 2020 um 20:50 Uhr

    „Aus Protest diskutierte die SP danach den Gang in die Opposition.“ Parteigeschichte auf den heissen Kern gebracht. Ein Satz wie aus Schmalz gehauen.

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