Andreas Rieger
In der Stadt Leicester arbeiten in der Bekleidungsindustrie 10000 Arbeiterinnen und Arbeiter zu sklavenähnlichen Bedingungen, ähnlich wie in der deutschen Fleischindustrie. Sie haben mehrheitlich keine Arbeitsverträge, verdienen weniger als die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohnes, viele haben keine Aufenthaltsbewilligung. Die Behörden wissen das seit längerem, aber Kontrollen gibt es nur wenige, und die Bussen sind lächerlich tief.
Trotz Coronakrise produzierten die Fabriken von Leicester weiter, wie wenn nichts wäre. Keine Abstandsregeln, keine Masken. Wer sich angesteckt hatte, musste weiterarbeiten. Viele arbeiteten auch deshalb weiter, weil sie sonst keinen Lohn gesehen hätten. Einer der Vorarbeiter prahlte: «Ich bin auch positiv getestet worden, habe weitergearbeitet und bin nicht gestorben.» Bis in Leicester plötzlich Hunderte Neuansteckungen bekannt wurden und die ganze Stadt in den Lockdown musste.
Der Leicester-Skandal zeigt das Brexit-Geschäftsmodell.
SHITSTORM FÜR BOOHOO. Nun kamen plötzlich Arbeitsbedingungen wie im 19. Jahrhundert ans Tageslicht. Der grösste Auftraggeber und Preisdrücker, der Kleiderhändler Boohoo, erntete darauf einen Shitstorm, niemand wollte mehr bei Boohoo shoppen. Und die Aktienkurse gingen in den Keller. Boohoo verspricht nun, den Mindestlohn einzuhalten und mehr Kontrollen durchzuführen. Damit es nicht bei Lippenbekenntnissen bleibt, verlangt der britische Gewerkschaftsdachverband TUC jetzt ein Gesetz zur Solidarhaftung der Unternehmen entlang der Lieferkette. Wenn ein Subunternehmer Lohndumping betreibt, haftet der Auftraggeber.
BREXIT-MODELL. Der Skandal von Leicester ist kein Einzelfall, er verkörpert das Geschäftsmodell des Brexit. Premier Boris Johnson will aus Grossbritannien das Singapur Europas machen. Einerseits sind da Londons Banken, die Top-Drehscheiben des Kapitals. Anderseits gibt es eine Billigindustrie, wenn nötig betrieben mit Schwarzarbeit. An die EU-Rechtsstandards punkto Arbeit, Soziales und Umwelt will sich Johnson nicht mehr halten. Und die SVP lobt dieses Brexit-Modell immer wieder über den grünen Klee!
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.