Elektriker Arif Keranovic macht aus Kabelsalat Haute Cuisine. Und bringt damit Elektrobusse in Fahrt.
AUF HOCHTOUREN. Arif Keranovic setzt Busse unter Strom. (Fotos: Matthias Luggen)
«Wir hatten Glück», sagt Arif Keranovic (50). Die coronabedingte Kurzarbeit habe bei ihnen in der Carrosserie Hess AG in Bellach SO nur einen Monat gedauert. «Ab dem 1. Juni lief der Betrieb wieder normal. Das heisst, etwas chaotisch war es schon noch.» Denn Lieferungen seien verspätet angekommen, und sie hätten sich zuerst an die neuen Schutzmassnahmen gewöhnen müssen. Mittlerweile wird in den Montagehallen wieder auf Hochtouren an den Elektrobussen geschraubt, geklebt und montiert. Keranovic: «Wir sind gottefroh, dass wir keine Coronafälle haben.» Und das soll auch so bleiben. In der Montagehalle arbeiten 60 Mitarbeitende. Nicht auszudenken, wenn das ganze Team für 14 Tage in Quarantäne müsste. «Das wäre ein Desaster!» sagt Keranovic.
Denn trotz Corona ist die Auftragslage für die Carrosserie Hess AG sehr gut, die Auftragsbücher sind bis 2023 voll. Statt Stellen abzubauen, hat Hess in den letzten Monaten sogar Jobs geschaffen. Heute beschäftigt das Familienunternehmen am Hauptsitz in Bellach 330 Mitarbeitende.
Hess setzt auf Strom – und dies seit 80 Jahren. Als eine der weltweit ersten Herstellerinnen kam sie weg vom Hybridmotor und ersetzte den Verbrennungsmotor mit einer Batterie. Und hat damit den Nerv der Zeit getroffen: Denn Elektrobusse sind nicht nur leiser als Benziner, sie stossen auch kein klimaschädliches CO2 aus und verbrauchen weniger Energie als Verbrennungsmotoren.
WELTWÄRTS. In der Montagehalle in Bellach stehen Bus-Rohbauten aus dem Hess-Werk in Minsk, Weissrussland. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in Bellach machen den Innenausbau. Keranovic montiert das Herzstück der Elektronik, das Elektrotableau. Dort laufen sämtliche Elektrokabel eines Busses zusammen. Keranovic erklärt: «Die neusten Busse können bis zu 25 Kilometer fahren. An den Haltestellen befinden sich Ladenstationen, welche die Batterien laden, während die Fahrgäste ein- und aussteigen.» Pro Jahr verkauft Hess weltweit etwa 2500 Busse. In fast allen grösseren Schweizer Städten fahren Trolleybusse von Hess. Die Firma liefert auch nach Österreich und Italien, Frankreich und Deutschland, neustens nach Indien und vielleicht bald nach Australien.
Arif Keranovic kam 1970 in Bosnien zur Welt, das damals noch Jugoslawien hiess. Der Vater war Saisonnier bei Bosch in Zuchwil SO. 1981 konnte Arif dank dem Familiennachzug in die Schweiz kommen. «Der Anfang war schwierig, weil ich kein Deutsch konnte», sagt Keranovic heute im fast akzentfreien Solothurner Dialekt. Doch dann habe er gesagt: «Papi, ich möchte Deutsch lernen!» Und so sei er zwei bis drei Mal wöchentlich in den Privatunterricht gegangen. Später fand er eine Lehrstelle als Automonteur in der Opel-Garage in Bellach, wo er bis 2006 arbeitete. In dieser Zeit bildete er sich zum Autoelektriker weiter, beaufsichtigte die Lernenden: Das Know-how und die Verantwortung nahmen also zu, nicht aber der Lohn. Deshalb beschloss er, sich einen anderen Job zu suchen. Fündig wurde er bei der Carrosserie Hess. Und hat in all den Jahren den Wechsel nie bereut. Keranovic: «In den letzten 14 Jahren hat sich natürlich einiges verändert.» Als er 2006 bei Hess begann, waren sie gerade mal 10 Elektriker, heute sind es 25. Auch die Elektronik habe sich extrem weiterentwickelt. Es brauche immer häufiger Schulungen, da die Technologie sich jährlich ändere.
Elektrobus: Arif Keranovic bringt den Strom in geordnete Bahnen.
VORWÄRTS. Hunderte schwarze Kabel montiert Keranovic genau nach Plan. Fügt er die falschen Enden zusammen, könnte es zu einem Kurzschluss kommen – das ist gefährlich und teuer. Deshalb arbeitet er alleine in einem Raum und schätzt die Ruhe, um sich konzentrieren zu können. Doch die Kolleginnen und Kollegen sind ihm wichtig, auch weil sie trotz der räumlichen Distanz sehr eng zusammenarbeiten müssen. Und er engagiert sich für sie – für ein gutes Betriebsklima, für ihre Rechte. Als Präsident der Betriebskommission vertritt er die gesamte Belegschaft vor dem Chef. Keranovic sagt: «Am Anfang war es nicht so einfach, mit dem Chef zu verhandeln. Aber jetzt weiss ich, wir sind auf Augenhöhe.» Da habe ihm auch die Unia geholfen. Seit vier Jahren ist Keranovic Mitglied. «Ich dachte, die Gewerkschaften hätten sowieso keine Chance gegen die grossen Firmen. Deshalb wollte ich wissen, was eine Gewerkschaft in der Schweiz erreichen kann.» Und dann habe er bemerkt, dass er bei der Unia viele praktische Infos bekomme. «Wir Arbeiter haben viel mehr Rechte, als ich damals dachte!» Und mit der Gewerkschaft im Rücken wurde auch sein Auftreten am Verhandlungstisch bestimmter. «Mit den letzten GAV-Verhandlungen bin ich zufrieden. Natürlich hätte ich mir beim Lohn mehr gewünscht, aber wir haben dafür in anderen Bereichen viel rausgeholt.» Ganz besonders freut ihn, dass die Betriebskommission letztes Jahr eine individuelle Lohnerhöhung von 0,5 Prozent erreicht hat, plus eine Bonuszahlung – an alle Mitarbeitenden.
Keranovic sagt, er habe Höhen und Tiefen erlebt, aber jetzt sei er zufrieden mit seiner Position. «Schön ist’s, wenn der Materialfluss läuft. Wenn wir reibungslos schaffen können und wir wissen, dass wir termingerecht liefern werden.»
Wenn der Bus nach ungefähr einem Monat fixfertig aus der Halle fahre, sei das schon ein gutes Gefühl: «Jawohl, wir haben es geschafft! Der Kunde ist zufrieden, der Chef ist zufrieden. Was will man mehr?» Wenn es so bleibe wie jetzt, würde er gerne bis zur Pensionierung weitermachen.
Arif Keranovic Gärtner
Arif Keranovic lebt mit seiner Frau und den zwei Söhnen (17 und 15 Jahre) in Zuchwil SO. 1000 Meter von seiner Wohnung entfernt befindet sich sein zweites Wohnzimmer: der Schrebergarten. Keranovic: «Ich habe stets einen Ausgleich gesucht, da ich beim Schaffen immer in einem geschlossenen Raum bin. Mein Sternzeichen ist Fisch, vielleicht will ich deshalb nicht eingeschlossen sein.» Im Garten zieht er in den Hochbeeten Gemüse, pflegt die Fruchtbäume, schneidet Reben und verbringt die Abende mit der Familie beim Grillieren. «Das konnten wir sogar im Lockdown tun! Wir waren schweizweit einer der wenigen Vereine, die weiterhin funktionierten.» Denn im Schrebergarten konnten die Schutzmassnahmen gut eingehalten werden. Nur Besucher durften sie keine empfangen. Seit gut drei Jahren ist Keranovic Präsident des Familiengartenvereins. Und zufrieden mit «seinem» Reich: «Der Garten hat auf 103 Parzellen 16 Nationen, man muss mit allen Pächtern z schlag cho.»
HEIMWÄRTS. Die Ferien verbringt Keranovic in normalen Zeiten bei seinen Verwandten in Bosnien. Geplant waren im Herbst ein paar Tage am Meer. «Doch daraus wird wohl nichts!» Jetzt müsse er sich halt mit Skype & Co. begnügen. Im Frühling war Keranovic das letzte Mal in seiner alten Heimat. Und hat es ganz knapp vor dem Lockdown zurückgeschafft. Keranovic erklärt: «Zum Glück sind wir frühmorgens los. Denn kaum waren wir über die Grenze, wurde diese auch schon geschlossen.»
Keranovic ist Präsident der Personalkommission, Unia-Mitglied und im Vorstand der Sektion Biel-Solothurn. Er verdient bei einem 100-Prozent-Pensum 6000 Franken brutto.