Im Vergleich zu anderen Einwanderungssystemen schneidet die Schweizer Personenfreizügigkeit in Verbindung mit wirksamen flankierenden Massnahmen gut ab.
AUSFÜHRTLICHE ANALYSE. Daniel Lampart ist Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Er hat die Personenfreizügigkeit mit der EU und die dazugehörigen flankierenden Massnahmen eingehend untersucht. (Foto: Keystone)
1. Personenfreizügigkeit und Flankierende: weniger Dumping, bessere Löhne
Dank der Einführung der flankierenden Massnahmen und der Personenfreizügigkeit gibt es heute weniger Lohndumping. Das zeigt eine Auswertung der offiziellen Schweizer Lohnstatistiken. Unter dem früheren fremdenpolizeilichen Kontingentssystem verdiente ein Kurzaufenthalter für die gleiche Arbeit rund 13,6 Prozent weniger als ein Schweizer. Bei den Grenzgängerinnen und Grenzgängern waren es rund 7,2 Prozent. Heute haben Kurzaufenthalter und Schweizer im Durchschnitt den gleichen Lohn – obwohl es natürlich auch heute immer wieder Dumpingfälle gibt. Bei den Grenzgängern sind es im Mittel noch rund 4,5 Prozent weniger.
Dahinter stehen vor allem zwei Ursachen. Dank den flankierenden Massnahmen (FlaM) kontrollieren die Arbeitsmarktinspektoren heute rund 170 000 Löhne pro Jahr. Bei Lohnverstössen werden die Firmen aufgefordert, die Löhne anzupassen, und sie werden gebüsst. Gleichzeitig brachte die Personenfreizügigkeit den Arbeitnehmenden aus der EU mehr Rechte. Sie können sich besser gegen Missbräuche wehren. Unter dem menschenunwürdigen Saisonnierstatut** dagegen war der Druck gross, Missbräuche stillschweigend hinzunehmen. Denn wer sich wehrte, wurde in der nächsten Saison nicht mehr eingestellt. Dadurch waren auch der spätere Familiennachzug oder die Jahresaufenthaltsbewilligung gefährdet. Stabilität und Sicherheit ergeben sich weiter aus der Verbesserung durch das Freizügigkeitsabkommen mit der EU: Die Jahresaufenthalte werden nun für fünf Jahre vergeben. Im alten System dauerten diese nur ein Jahr. Dementsprechend waren auch die Arbeitsverträge befristet. Viele Betroffene lebten in Sorge, dass sie Stelle und Aufenthalt zusammen verlieren könnten. Gewisse Firmen nutzten das aus und zahlten den Betroffenen weniger Lohn.
Personenfreizügigkeit und flankierende Massnahmen zusammen sind ein Fortschritt. Die Berufstätigen ohne Schweizer Pass leben sicherer und können sich besser wehren. Davon profitieren auch die Schweizerinnen und Schweizer. Denn wenn Missbräuche und Dumping bei den Ausländerinnen und Ausländern nicht bekämpft werden, schlagen sie irgendwann auf den ganzen Arbeitsmarkt durch. Weil die Löhne insgesamt unter Druck kommen oder weil die Firmen «billigere» Arbeitskräfte aus dem Ausland anstelle von Inländerinnen und Inländern anstellen.
(Quelle: CH: BFS, Lohnstrukturerhebung; UK: Office for National Statistics (UK), https://www.ons.gov.uk/employmentandlabourmarket/peopleinwork/earningsandworkinghours/datasets/ashe1997to2015selectedestimates ;
DE: GSES (German Structure of Earnings Survey / Verdienststrukturerhebung) ; FR : https://www.insee.fr/fr/statistiques/4182935?sommaire=4182950 2016, S. 149 Fiches – Revenus et coûts du travail – Emploi, chômage, revenus du travail – Insee Références – Édition 2019 ; AT : https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/personen-einkommen/jaehrliche_personen_einkommen/index.html)
2. Die Schweiz ist heute Europameisterin bei den Lohnkontrollen
Die Corona-Ansteckungen in der deutschen Fleischverarbeitung (work berichtete: rebrand.ly/schweine-system) haben viele Leute erschreckt. Überraschend waren sie aber nicht. Bereits seit Jahren weisen die Gewerkschaften auf die problematischen Arbeitsbedingungen und Unterkünfte der Arbeiterinnen und Arbeiter aus Bulgarien und Rumänien in der deutschen Fleischindustrie hin. Und sie haben kritisiert, dass der für die Lohn- und Arbeitsmarktkontrollen verantwortliche Zoll viel zu wenig tut.
Die Schweiz hingegen ist Europameisterin bei den Lohnkontrollen – auch dank dem gewerkschaftlichen Druck für die FlaM. Hierzulande kontrollieren die Sozialpartner und die Kantone über 170’000 Arbeitnehmende oder 41 000 Firmen pro Jahr. Der deutsche Arbeitsmarkt ist fast zehnmal grösser. Doch der für die Kontrollen zuständige Zoll überprüft nur rund 55 000 Firmen jährlich. Österreich – wie die Schweiz ein kleineres Land – ist die Nummer 2 in Europa. Dort werden etwa 105 000 Arbeitnehmende bei einem ungefähr gleich grossen Arbeitsmarkt wie in der Schweiz kontrolliert. Frankreich ist mit rund 20’000 kontrollierten Betrieben weit abgeschlagen.
3. Positive Lohnentwicklung und interessanter Qualifikationsmix bei den Arbeitskräften, die einwanderten
Die Schweiz hat in den letzten 20 Jahren auf Druck der Gewerkschaften eine aktivere GAV- und Mindestlohnpolitik betrieben. Die tiefen und mittleren Löhne sind gestiegen – trotz einem widrigen Umfeld mit Franken-Überbewertung. Die FlaM haben dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Einerseits wurde die Kontrollaktivität erhöht, andererseits entstanden Mindestlöhne in neuen Branchen wie in der Hauswirtschaft oder im Personalverleih. Deutschland hingegen verfolgte bis zur Einführung des staatlichen Mindestlohnes nach 2010 eine Tieflohnpolitik. Die bereits sehr tiefen Löhne sanken in den 2000er Jahren noch weiter ab.
Diese lohnpolitischen Versäumnisse in Deutschland machen sich nicht nur bei den Löhnen, sondern auch beim Qualifikationsmix der Einwanderung bemerkbar. Dieser hat sich in Deutschland ungünstiger entwickelt als in der Schweiz. In der Schweiz konnte durch die aktive Politik gegen die Tieflöhne eine stärkere Ausbreitung von prekären Jobs verhindert werden. Schweizer Firmen beschäftigten mehr höherqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland. Der Anteil der im Ausland neu rekrutierten Hilfsarbeitskräfte ging hingegen markant zurück – viel ausgeprägter als in Deutschland.
(Quelle: Eigene Berechnungen, basierend auf OECD DIOC https://www.oecd.org/els/mig/dioc.htm)
4. «Wunschkonzert» der schwarzen Schafe unter den Firmen im früheren
Kontingentssystem
Dank den FlaM zur Personenfreizügigkeit wird den Firmen in der Schweiz erstmals richtig auf die Finger geschaut. Die Lohnkontrolleure überprüfen jährlich über 40’000 Firmen, ob sie korrekte Löhne und Sozialversicherungsabgaben zahlen. Im Dumpingfall müssen sie Bussen zahlen. Und sie werden von Bund und Kantonen aufgefordert, die Löhne zu erhöhen.
Das frühere Kontingentssystem vor 2002 war dagegen ein «Wunschkonzert» der schwarzen Schafe unter den Firmen. Sie erhielten ihre Bewilligungen meistens wie gewünscht. Kontrollen der Löhne und Arbeitsbedingungen gab es kaum. Darum haben die Firmen viele Leute schwarz angestellt. Etwa, um keine Sozialabgaben zu zahlen. Schätzungen der Gewerkschaften gingen fürs Jahr 1990 von 120 000 bis 180 000 illegal Beschäftigten aus.
Die Einwanderungsstatistiken zeigen das klar. In wirtschaftlichen Boomjahren wie den 1960ern oder vor 1991 stellten die Firmen mehr Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Ausland ein. Die Einwanderungszahlen stiegen. In Rezessionsphasen wurden deutlich weniger Aufenthaltsbewilligungen ausgestellt. In diesen offiziellen Statistiken ist die Schwarzarbeit natürlich nicht enthalten. Sonst wären die Zahlen vor allem für die Zeit vor der Einführung der Personenfreizügigkeit noch höher.
Die Einwanderungszahlen der jüngeren Zeit sind vergleichsweise wenig auffällig. Obwohl der Arbeitsmarkt viel internationaler geworden und die Migration auf der ganzen Welt höher ist als früher. Das zeigt: Die Einwanderung ist vor allem durch die Wirtschaftslage geprägt. Doch dank den FlaM bekämpft die Schweiz seit der Personenfreizügigkeit erstmals Dumping und Ausbeutung.
5. Verbreitete Schwarzarbeit im früheren Kontingentssystem
Viele Probleme, aber nur wenige schauten hin. So lässt sich ungefähr die Lage im früheren fremdenpolizeilichen Kontingentssystem zusammenfassen. Das von den Befürworterinnen und Befürwortern der SVP-Kündigungsinitiative verherrlichte Kontingentssystem war in jeder Hinsicht untauglich. Es gab mehr Lohndumping und problematische Arbeitsbedingungen.
Ein enormes Problem war die Schwarzarbeit. Wer Arbeitskräfte aus dem Ausland einstellen wollte, brauchte offiziell eine Bewilligung. Dabei hätten die Behörden auch die Löhne und die Arbeitsbedingungen kontrollieren müssen. Doch das wurde von den Firmen häufig umgangen. Teilweise, weil keine Ausländerbewilligungen mehr frei waren. Teilweise, weil den Chefs der Gang zu den Behörden nicht passte. Neben der Landwirtschaft gab es vor allem auch im Bau- und Ausbaugewerbe sowie im Gastgewerbe viel Schwarzarbeit.
Die Behörden haben weitgehend weggeschaut. Zeitzeugen schildern, dass sich die schwarz angestellten landwirtschaftlichen Hilfsarbeiter am Sonntag in den Dörfern teilweise in Anwesenheit der Dorfpolizei im Restaurant trafen. Gemäss Gewerkschaftsberichten betrugen die Strafen oft nur 100, manchmal sogar nur 10 Franken. Zur Schwarzarbeit gibt es natürlich keine öffentlichen Statistiken. Weil die illegal Angestellten nicht gemeldet oder registriert sind. Doch man kann sie indirekt aus Angaben über die Produktion und die legal Angestellten schätzen. Dabei zeigt sich, dass die Schwarzarbeit mit der Einführung der Personenfreizügigkeit und der FlaM ab 2004 deutlich zurückgegangen ist. Weil die Betriebe nun kontrolliert werden. Aber auch, weil es keine unnötigen bürokratischen Bewilligungsverfahren mehr gibt.
(Quellen: 2002 bis 2016 Seco-Observatoriumsbericht 2019, 1996: De Coulon, A., et al. (2003): Analyse der Lohnunterschiede der ausländischen und der schweizerischen Bevölkerung. In: Wicker, H.-R., et al. (Hg.): Migration und die Schweiz, Seismo, Zürich.)
6. Kontingentssystem hinterlässt in der IV und der ALV bis heute unerwünschte Spuren
Das frühere Saisonniersstatut verschwindet nach und nach aus dem öffentlichen Gedächtnis. Dabei sind seine Spuren immer noch erkennbar – wenn auch etwas verdeckt. Denn viele der früheren Saisonniers sind heute in der IV, langzeitarbeitslos oder in der Sozialhilfe. Weil sie früher zu prekären Anstellungsbedingungen arbeiten mussten. Weil die damaligen Arbeitgeber die Ausbildung und auch den Erwerb einer Landessprache sträflich vernachlässigt hatten. Sie seien ja nur kurz da – und wurden dann trotzdem mehrere Saisons beschäftigt. Schliesslich waren die Saisonniers von ihren Familien getrennt, was ihnen psychisch zu schaffen machte und für die Integration nicht förderlich war.
Verschiedene Studien und Erfahrungen zeigen, dass diese Faktoren – zusammen mit den Risiken körperlicher Arbeit – die Gesundheits- und Arbeitslosigkeitsrisiken markant erhöhen. So sind «Migranten ohne Ausbildung und Sprachkenntnisse besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten eine Hochrisikogruppe bezüglich Invalidisierung», wie es eine Studie für das Bundesamt für Sozialversicherungen formuliert.
Das neue Migrationsregime der Personenfreizügigkeit mit flankierenden Massnahmen ist diesbezüglich wesentlich besser aufgestellt. Die Aufenthaltsrechte sind familienfreundlicher und stabiler.
Mit den Lohnkontrollen wird Dumping und Schwarzarbeit aktiv bekämpft. Billigarbeitskräfte» gibt es nicht mehr wie früher.
Migrationspolitische Hardliner sagen, dass man Migrantinnen und Migranten von den Sozialwerken ausschliessen müsse. Rein rechtlich ist aber klar: Wer Beiträge zahlt, muss auch Leistungen erhalten. Wer gar so weit geht und fordert, dass die ausländischen Arbeitskräfte keine Beiträge zahlen sollten, schiesst sich ins eigene Bein. Denn das wäre nicht nur unsozial, sondern auch Dumping gegenüber den Inländerinnen und Inländern. Doch der entscheidende Punkt ist ein anderer: Unmenschliche Systeme funktionieren nicht. Weil die Menschen soziale Wesen sind. Sie möchten dort zu Hause sein, wo sie arbeiten. Sie knüpfen Kontakte und Freundschaften – unabhängig von ihrer Herkunft.
7. Bessere Beschäftigungs- und Lohnsituation als im kanadischen Punktesystem
Gegnerinnen und Gegner der Personenfreizügigkeit mit den FlaM verweisen immer wieder auf Kanada. Das dortige Punktesystem sei überlegen. Die Realität zeigt ein anderes Bild. Die Erwerbsbeteiligung und die Lohnsituation der unter der Personenfreizügigkeit in die Schweiz eingewanderten Personen ist insgesamt besser. Ausführliches dazu im «1×1 der Wirtschaft.»
* Die Analyse in voller Länge und mit allen Quellenangaben gibt es hier: www.rebrand.ly/pfz-analyse
** Viele Saisonniers mussten zu dritt oder zu viert in Barackenzimmern hausen. Sie konnten die Stelle nicht wechseln. Der Familiennachzug war zuerst verboten und ab 1965 nur unter schikanösen Bedingungen erlaubt. Die work-Broschüre zu diesem Schweizer Schandfleck gibt es hier: rebrand.ly/work-leseheft.
SGB-AbstimmungszeitungTatort Arbeitsplatz
Die Gewerkschaften haben eine Abstimmungszeitung zur Kündigungsinitiative der SVP veröffentlicht. Sie entlarvt die Initiative als das, was sie ist: ein frontaler Angriff auf die Rechte aller Arbeitnehmenden in der Schweiz. Die Zeitung wird in über zwei Millionen Haushaltungen im Land verteilt. Wer (noch) keine bekommen hat, kann sie hier herunterladen: rebrand.ly/sgb-zeitung. Weitere Fakten zur Kündigungsinitiative gibt es hier: jobs-und-loehne.ch.