Andreas Rieger
Es ist ein ewiger Skandal: Die Lohngleichheit kommt nur im Schneckentempo vor-
an. Wenn es so weitergeht, braucht es mindestens 80 Jahre, bis wir sie in der Schweiz erreichen. Der mächtige Frauenstreik vom letzten Jahr war die Antwort auf diese Verzögerungspolitik.
BIG BUSINESS BLOCKT. Auf europäischer Ebene ist es kaum besser. Im EU-Schnitt liegen die Frauenlöhne um 15 Prozent tiefer als jene der Männer. In Ländern wie Deutschland und Österreich sind es gar gegen 20 Prozent. Das möchte die Europäische Union seit längerem ändern. Vor sechs Jahren gab sie eine Empfehlung zur Lohngleichstellung heraus. Allerdings eine ohne Biss: nicht einmal die Hälfte der Mitgliedländer haben sie bisher übernommen. Die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprach deshalb in ihrem Regierungsprogramm eine verbindliche EU-Richtlinie. Ein Gesetzesvorschlag solle bereits 2020 auf den Tisch kommen. Aber inzwischen wurde das Geschäft auf der Prioritätenliste bereits runtergestuft. Offensichtlich haben die Arbeitgeberverbände blockiert. Jedenfalls kommentiert Esther Lynch, stellvertretende Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB), die Sache so: «Big Business findet, es gehe ja schön vorwärts, und die Lohnunterschiede sollten mit freiwilligen Massnahmen reduziert werden.»
Jetzt geborene Babies dürften
Lohngleichheit in der EU knapp erleben.
VON DER LEYENS VERSPRECHEN. Jetzt schlagen die europäischen Gewerkschaften Alarm. Sie haben ausgerechnet, was passiert, wenn in Sachen Lohngleichstellung so wenig passiert wie in den letzten acht Jahren. Im EU-Schnitt dürften jetzt frisch geborene Babies dies gerade noch erleben – nämlich im Jahr 2104. In Deutschland würde es gar hundert Jahre gehen – bis 2121! In neun Ländern, insbesondere in Osteuropa, kroch die Lohngleichheitsschnecke in den letzten Jahren sogar rückwärts. Nicht mal die Neugeborenen haben dort eine Chance. Dabei ginge es auch anders. So wie in Luxemburg und Belgien: Dort kommt die Lohngleichheit 2027 und 2028, wenn’s weiterhin läuft wie bisher. Kein Wunder, ist bei den Gewerkschafterinnen jetzt aus mit der Geduld: Sie verlangen «Lohngerechtigkeit jetzt!». Oder wie es EGB-Frau Lynch sagt: «In der Covid-Krise kam klar an den Tag, wie sehr unsere Löhne unterbewertet sind. Ursula von der Leyen hat Hoffnungen geweckt und muss ihr Versprechen nun halten!»
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.