Statistik, das sind nicht nur leere Zahlenhaufen, sagt Hans Ulrich Jost. Statistik erzähle von Machtverhältnissen und heftigen politischen Kämpfen. Als erster hat Jost ein Grundlagenwerk zur Schweizer Statistik geschrieben.
Määh: Das Private ist politisch – das gilt auch für den Geissenstall und die Erfassung der Kartoffelkäfer. (Foto: 123RF)
work: Die Schweiz erfasst statistisch zwar jede Geiss, aber sie hat weder eine brauchbare Sterbestatistik nach Berufen noch eine über Berufskrankheiten. Warum?
Hans-Ulrich Jost: Tatsächlich hat man dem statistischen Amt lange Zeit den Vorwurf gemacht, vor allem Geissen, Hasen und Kühe zu zählen und alles andere zu vernachlässigen. Das traf früher auch zu, hatte aber seine Gründe. Vor etwa 150 Jahren sprach der Bund der Landwirtschaft erstmals Subventionen zu. Und weil er dieses Geld zielgerichtet einsetzen wollte, musste er mehr über die Landwirtschaft wissen. Deshalb wuchs die Landwirtschaftsstatistik schneller als andere Statistiken. Kommt hinzu, dass der Bauernverband unter seinem König, dem einstigen Direktor Ernst Laur, sehr früh schon eigene Statistiken für seine politischen Interessen einsetzte. Laur bezeichnete Zahlen als Soldaten, die viel besser zuschlagen könnten als alle anderen Argumente. Und so sah sich der Bund denn gezwungen, der privaten und manipulierten Bauernverbandsstatistik eine mehr oder weniger neutrale Landwirtschaftsstatistik entgegenzusetzen.
Hans Ulrich Jost, Historiker. (Foto: Franziska Scheidegger)
Das führte dazu, dass das Eidgenössische Statistische Büro im Zweiten Weltkrieg sogar den Kartoffelkäfer zählen liess.
Und auch das hat seinen Grund: Im Zweiten Weltkrieg wollte die Schweiz Selbstversorgerin sein – und da war der Kampf gegen die Kartoffelkäfer, die in kürzester Zeit ganze Kartoffelpflanzungen auffressen können, beinahe existentiell. Der Bund wollte den Kampf gegen den Schädling subventionieren und brauchte deshalb eine zuverlässige statistische Erhebung.
Statistik entstand also aus dem Bedürfnis heraus, Volkswirtschaft zu betreiben?
Ganz am Anfang der Statistik steht die Volkszählung. Der Staat wollte schon im 18. Jahrhundert wissen, wie viele Leute im Land leben und wie viele Männer er für die Armee rekrutieren kann. In der Schweiz wird die Volkszählung mit der Gründung des Bundesstaates dann noch wichtiger, denn jeder Kanton hatte entsprechend seiner Bevölkerungszahl Anrecht auf Sitze im Nationalrat. Ab 1848 gab es deshalb regelmässig eine Volkszählung. Schon bald erhob die Schweiz dann auch Gesundheitsstatistiken. Es entstand das Bedürfnis, die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Realität mit Zahlen abzubilden.
Statistiken sind also spannend?
Ja, Statistik, das sind nicht nur leere Zahlenhaufen. Sie sind wie Bilder, die man zusammenstellt. Als würde man mit einer Taschenlampe gewisse Bereiche eines Landes ausleuchten.
Und wieso richtet man diese Taschenlampe nicht auch auf die Sterblichkeit nach Berufen? Und erleuchtet die Tatsache, dass Bauarbeiter viel weniger alt werden als Uni-Professoren?
Da kommt halt ein perverser Zug der Statistik zum Zuge: Sie kann für politische Zwecke genutzt werden. Und in der Schweiz waren die wirtschaftlichen Kräfte immer stärker als die sozialen. Unternehmer und Bankiers dominierten die Schweizer Politik von Anfang an, und sie wollten keine Sozialstatistiken. Denn die hätten ihren Kritikern, zum Beispiel der Arbeiterbewegung, Argumente geliefert für ihre sozialpolitischen Forderungen. Etwa für die Schaffung einer Krankenversicherung oder einer AHV. Und da waren die Unternehmer und ihre politischen Parteien dagegen.
Das musste auch Arbeiterführer Herman Greulich erfahren, als er den Vorschlag machte, die Kategorie «Arbeitslosigkeit» in die Volkszählung von 1900 einzufügen.
Ja, ein wunderbares Beispiel! Die bundesrätliche Kommission lehnte Greulichs Forderung mit der Begründung ab, wenn man eine Arbeitslosenstatistik machen und diese veröffentlichen würde, könnten einige Leute auf falsche Gedanken kommen.
Die Arbeitgeberverbände bekämpften auch Wirtschaftsstatistiken, etwa über die Schweizer Industrie. Diese sei nicht an «statistischen Röntgenaufnahmen» interessiert, sagten sie. Sie wollten also auch keine Transparenz auf dem Arbeitsmarkt?
Die Industrieunternehmer fürchteten sich vor allem vor der Erfassung und Publikation ihrer Profite und der Löhne, die sie zahlten. Steuerhinterziehung gehörte zum Unternehmeralltag – und da wollte man sich nicht in die Karten schauen lassen. Das hat sich nicht grundsätzlich geändert.
Seit wann gibt es in der Schweiz eine Lohnstatistik?
Seit Ende des 19. Jahrhunderts. Aber sie war sehr rudimentär und kam von den Unternehmern selbst. Es waren also tendenziöse Zahlen, mit denen die Patrons zeigen wollten, dass es gar keine offizielle Lohnstatistik brauche. Einer der ersten Direktoren des Bundesamtes für Statistik wurde praktisch aus dem Amt gejagt, weil er es gewagt hatte, darauf hinzuweisen, dass offizielle Lohnstatistiken dringend nötig seien. Die Unternehmer konterten, Lohnstatistiken seien Privatsache und würden die Öffentlichkeit nichts angehen.
Warum haben wir heute dennoch offizielle Lohnstatistiken?
Das Bundesamt für Statistik hat sich eigentlich erst in den letzten fünfzig Jahren in der Sozialstatistik wesentlich verbreitert und verbessert. Nicht zuletzt auch, um sich dem Ausland anzugleichen, das da wesentlich weiter war. Zwischen den verschiedenen Departementen kam es allerdings auch immer wieder zu Streitigkeiten darüber, wer eigentlich Sozialstatistik machen dürfe. Das Biga, das heutige Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), war unternehmerfreundlich und wehrte sich gegen die Arbeiten des offiziellen statistischen Amtes, weil dieses unabhängiger arbeitete.
Hans Ulrich Jost: Von Zahlen, Politik und Macht
Der emeritierte Professor für Zeitgeschichte ist einer der pointiertesten linken Historiker der Schweiz. Er ist auch einer der schärfsten Kritiker der SVP und ihrer Mythen-Schweiz. Unlängst ist sein neustes Buch über die (politische) Geschichte der schweizerischen Statistik herausgekommen.
Hans Ulrich Jost: Von Zahlen, Politik und Macht. Geschichte der schweizerischen Statistik. Chronos-Verlag, 2016, 176 Seiten, Fr. 38.–.
In regelmässigen Abständen schiesst auch die SVP gegen das Bundesamt für Statistik. Seine Arbeit sei zu teuer und unnütz, argumentiert die Blocher-Partei. Wie verstehen Sie diese Angriffe?
Dahinter steht die Tatsache, dass das Bundesamt für Statistik in den letzten Jahrzehnten eine Reihe kritischer Sozialstatistiken erhoben und publiziert hat. Zur Einkommensverteilung etwa, zur Asylpolitik, zum Wohnungsmarkt oder zur Arbeitslosigkeit. Das ist es, was der SVP nicht passt. Denn sie setzt ihrerseits Statistik in extrem verfälschter Form ein, um ihre Propaganda zu stützen. Und da ist es ihr natürlich unangenehm, wenn ein angesehenes Amt wie das Bundesamt für Statistik da mit guten Zahlen kontert.
Ihre Geschichte der Statistik der Schweiz ist ein Pionierwerk. Haben Sie beim Forschen etwas entdeckt, was Sie wirklich überrascht hat?
Ja, in den statistischen Zahlen spiegelt sich die Geschichte der Machtverhältnisse und der politischen Kämpfe um die Deutungshoheit. Ein Beispiel: In den 1880er Jahren fand im Nationalrat eine mehrstündige Debatte über die Geiss statt. Ein Bündner Nationalrat hielt ein feuriges Plädoyer für die Subventionierung der Geisswirtschaft. Auch da ging es vor allem um Statistik. Hinter dieser versteckte sich aber ein sozialer Kampf für den ärmeren Bevölkerungsteil. Denn die Geiss war damals die Kuh der armen Leute. Der Bündner Politiker wollte also den ärmeren Teil der Bevölkerung unterstützen und nicht die reicheren Kuhbesitzer …
Damit wären wir wieder am Anfang und bei den Geissen.
Das schleckt keine Geiss weg!