Die zweite Welle rollt mit voller Wucht, die Corona-Fallzahlen explodieren. Dies verlangt von den Pflegenden alles ab. Schon wieder.
KAMPF GEGEN DIE CORONA-WELLE. Die Pflegerinnen und Pflegern in den Heimen und Spitälern schlagen Alarm. (Illustration: Ninotchka.ch)
Die Corona-Fallzahlen steigen und steigen. Schon Ende Oktober waren viele Pflegerinnen und Pfleger am Limit. work hat mit Pflegenden quer durch die Schweiz gesprochen. Etwa mit Katja Roth* (28), Pflegefachfrau im Kanton Bern: «Gestern hatte ich den ganzen Tag nicht einmal Zeit, aufs WC zu gehen. Geschweige denn, etwas zu essen.» Sie arbeitet auf der inneren Medizin, ist manchmal alleine für sechs bis acht Corona-Patienten verantwortlich. Meist muss sie nach Schichtende weiterarbeiten. Eine Stunde oder mehr. Und Kolleginnen, die positiv auf Corona getestet wurden, müssen weiter zur Arbeit kommen, wenn sie keine Symptome haben. «Fahrlässig» sei das, sagt Roth. «Und das ist erst der Anfang. Die Zahlen steigen weiter.»
Kürzlich musste Roth einen Patienten auf die Intensivstation bringen. Normalerweise machen das zwei Pflegende. Aus Personalmangel muss sie diesmal alleine gehen. Und obwohl der Patient das Maximum an Sauerstoff erhält, verschlechtert sich sein Zustand unterwegs rapide. Roth: «Ich hatte Angst, dass er gleich stirbt.»
«Unsere Station ist voll. Die
Intensivstation auch.»
17 CORONA-FÄLLE IM HEIM
Es läuft aus dem Ruder, mehrere Kantonsspitäler sind schon jetzt am Limit: Ihre Ärzte wenden sich per Video an die Bevölkerung. Mit heftigen Botschaften. Zum Beispiel Nicolas Blondel, leitender Arzt am Kantonsspital Freiburg: Alle 15 Minuten liefere der Rettungsdienst derzeit jemanden mit Corona in den Notfall ein. Nicht nur ältere Menschen. Die Lage sei «extrem ernst». Und jeder zweite Test positiv. Einige Kantone, darunter auch Freiburg, haben deshalb schon die Lockdown-Notbremse gezogen. Als erster der Kanton Jura: Am 30. Oktober verhängte er den Ausnahmezustand.
Im Kantonshauptort Delémont arbeitet Fabienne Meyer in einem Altersheim. work erreicht sie um 9 Uhr morgens, sie ist auf dem Heimweg von einer Nachtschicht. Gerade sei erneut eine Bewohnerin an Corona verstorben, berichtet sie. Bereits die fünfte seit Beginn der zweiten Welle. Von den 35 Betagten im Heim sind 17 mit dem Virus infiziert. Meyer sagt: «Es gab einen Moment, da dachte ich: Ich kann nicht mehr.» Aber dann habe sie an ihre «Grossmütter» gedacht, wie die 35jährige die ihr anvertrauten Menschen liebevoll nennt. «Ich lasse sie nicht im Stich», sagt Meyer. Und verabschiedet sich, um zu schlafen.
SCHON VOR CORONA ZU WENIG LEUTE
Zu Samuel Minder* (30) kommen die kritischen Fälle. Er arbeitet in einer von vier Intensivstationen des Berner Inselspitals. Bei einem älteren Mann hätte er am Anfang der letzten Nachtschicht das Schlimmste befürchtet, sagt Minder: «Er ist schon seit Tagen im künstlichen Koma und hat massiv Gewicht verloren. Aber bis am Morgen hatte er sich wieder ein bisschen erholt.»
Ja, das gehe auch ihm als Pfleger an die Substanz, und ja, die Station sei an der Grenze der Belastung. «Aber sorry, das war vor Corona genauso! Um richtig gut Pflege zu machen, sind wir zu wenige. Pandemie hin oder her.»
ALLE BETTEN BELEGT
Auch Monique Schaub* (37) ist Intensivpflegerin, schon seit 12 Jahren. Derzeit wechselt sie zwischen Zürich und Chur hin und her. Beide Spitäler hätten bereits auf Plan B umstellen müssen, sagt sie. Weil es auf der Intensivstation keine freien Betten mehr gibt. «Wir mussten eine andere Station für die Corona-Patienten freiräumen. Wer nicht ganz so intensive Pflege braucht, wird jetzt dorthin verlegt.» Aus Platzmangel hätten sie kürzlich einen Coronafall neben einen frisch operierten Patienten plaziert, berichtet Schaub: «Im Normalfall ist das ein No-go.»
Zwischen den zwei Coronawellen habe sich das Personal nicht erholen können, sagt Schaub: «Sobald die erste Welle abgeflacht ist, haben die Spitäler wieder wie am Fliessband operiert, um das Defizit wettzumachen.» Nach komplizierten Operationen müssen Patientinnen und Patienten oft auf der Intensivstation betreut werden. Und nehmen jetzt den Platz ein, der für Coronafälle fehlt.
Schaub erzählt, eine Kollegin sei jetzt in den Flitterwochen. Aber vor der Abreise wurde ihr gesagt, sie müsse erreichbar sein für den Fall, dass Personal gebraucht werde. Schaub: «In welchem anderen Beruf muss man das mit sich machen lassen?» Noëmi Jacot *, Pflegerin in einem Altersheim, seufzt und sagt: «Ich habe von dem Virus so die Nase voll.» Von der Gefahr, von der Mehrarbeit, der Unsicherheit. «Dauert es noch sechs Monate, ein Jahr, länger? Niemand weiss es.»
Lea Daum (30) arbeitet als Fachfrau Gesundheit in einem Pflegeheim im Kanton Freiburg. «Seit Jahren wird unser Gesundheitswesen kaputtgespart», sagt sie. Schlimmer noch: Seit der ersten Coronawelle im Frühling hätte die Politik Zeit gehabt, etwas zu ändern. «Aber nichts ist passiert. Gar nichts.»
Im Gegenteil. Deshalb forderten die Pflegekräfte am 31. Oktober auf dem Bundesplatz bessere Löhne und mehr Personal. Dafür müsse der Bund jetzt Geld in die Hand nehmen (siehe Spalte rechts). Doch die Präsidentin der nationalrätlichen Gesundheitskommission, CVP-Frau Ruth Humbel, findet die Forderung «zynisch». Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagte Humbel: «So miserabel ist der Verdienst des Pflegepersonals nicht.»
Für Beni Keller *, Mitte 20, Pflegefachmann im Wallis, ist diese Aussage «ein Schlag ins Gesicht». Für alle im Gesundheitswesen, die täglich das Risiko einer Ansteckung in Kauf nähmen. Die Schweizer Gesundheitspolitik laufe grundfalsch, sagt Keller: «Warum muss ein Spital Profit erwirtschaften?» Für die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen sei doch Service public. Auch bei Sandra Schmied (50) wird gespart. Sie ist Pflegerin in einem Altersheim im Kanton Bern und sagt: «Unser Team ist schon seit Jahren nicht mehr vollständig.» Eigentlich müsste es fünf Personen umfassen. «Aber wir sind meistens vier, manchmal nur drei.» Sehr oft würden Kolleginnen krank. Aus Erschöpfung.
«Um richtig gut Pflege zu machen, sind wir zu wenige. Pandemie hin oder her.»
LAGE SPITZT SICH ZU
Als work zwei Tage später nochmals mit Katja Roth in Bern telefoniert, hat sich die Lage weiter zugespitzt. Roth sagt: «Unsere Station ist voll. Kaum geht jemand, wird das Bett wieder gefüllt.» Und auch die Intensivplätze im Spital seien alle belegt. «Heute war ein Corona-Patient nicht mehr ansprechbar, seine Atmung ging doppelt so schnell wie normal. Aber auf der Intensiv war kein Platz frei.» Verlegen in ein anderes Spital kam nicht in Frage, dafür war der Zustand des Mannes zu schlecht. Roth pflegte ihn, so gut es ging. Er hatte Glück: Nach ein paar Stunden wurde ein Bett auf der Intensivstation frei. Aber Roth sagt klar: «Jetzt sind wir so weit, dass wir entscheiden müssen, wem es am schlechtesten gehe. Und nur die können auf die Intensivstation.»
Nicht besser die Nachrichten von Intensivpflegerin Monique Schaub: Bei ihr sei gerade eine halbe Station geschlossen worden, weil sich sechs im Team mit Corona angesteckt hätten. Im Labor sei sogar fast das ganze Team in Quarantäne: Die letzte verbleibende Kollegin muss jetzt 16 Tage am Stück arbeiten.
Protestwoche & Demo auf dem Bundesplatz «Applaus genügt nicht!»
Es war der Abschluss einer Protestwoche unter besonderen Vorzeichen: Gegen tausend Pflegende protestierten am 31. Oktober auf dem Berner Bundesplatz – mehr waren nicht zugelassen, damit der Abstand eingehalten werden konnte. Sie forderten endlich eine Lohnerhöhung sowie eine Corona-Prämie, mehr Mitsprache am Arbeitsplatz sowie mehr Personal für eine bessere Pflege.
Auch Unia-Mitglied Silvia Dragoi griff zum Megaphon. Die Rumänin ist Hauspflegerin im Tessin und berichtete davon, wie sie und ihre Kolleginnen in der ersten Welle oft rund um die Uhr im Einsatz waren. Und die Hebamme Andrea Weber stellte klar: «Applaus reicht nicht! Es braucht jetzt bessere Arbeitsbedingungen.»
GROSSES BÜNDNIS. Zu den Protesten aufgerufen hatte ein Bündnis von 12 Organisationen, darunter die Gewerkschaften Syna und VPOD, der Pflegeverband SBK sowie die Unia. Auch nach der Protestwoche bleibt das Bündnis aktiv. Die Syna-Zentralsekretärin Migmar Dhakyel gab dem Bundesrat schon mal den Tarif durch: «Wir werden nicht akzeptieren, dass er noch einmal das Arbeitsgesetz ausser Kraft setzt!»
Weil der Bundesrat die Verantwortung für die Pandemie-Bekämpfung wieder den Kantonen übertragen hat, ist die Schweiz im Unterschied zu den Nachbarn ein Flickenteppich.