Margarethe Faas-Hardegger stellte als «erster weiblicher Sekretär» die Gewerkschaftswelt auf den Kopf – chaotisch und leidenschaftlich politisch.
UNBEQUEM: Gewerkschafterin Margarethe Faas-Hardegger propagierte das Wahl- und Stimmrecht für Frauen, das Recht auf Abtreibung, Anarchismus und freie Liebe. (Foto: Sozialarchiv)
«Der erste weibliche Sekretär» im Schweizerischen Gewerkschaftsbund wurde innert vier Jahren einmal angestellt und zweimal entlassen. Beim zweiten Mal dann definitiv, abgespeist mit einem halben Monatslohn Entschädigung von gerade mal 112 Franken und 50 Rappen. Margarethe Faas-Hardegger ist voll Elan, als sie sich beim SGB bewirbt. 22 Jahre alt, hochschwanger mit dem zweiten Kind, Jusstudentin und Sekretärin von Eugen Huber, dem Vater des Zivilgesetzbuches. Die SGB-Führung ist skeptisch über diese junge Akademikerin, die nicht aus der Arbeiterschaft stammt. Ihr Vater arbeitet beim Berner Telegraphenamt, ihre Mutter ist Hebamme. Aber Hermann Greulich, ihr Förderer und Mentor, drückt ihre Wahl durch.
«Wenn Männer zu zaghaft sind, müssen wir ihnen die Schlafmützen herunterziehen.»
MACHT EINFACH, WAS SIE WILL
Margarethe Faas-Hardegger stürzt sich in die Arbeit. Ihr Studium hat sie abgebrochen. Sie reist kreuz und quer durch die Schweiz zu Gewerkschaftsversammlungen und gründet sogleich eine neue Gewerkschaft in Schönenwerd SO. Das Königreich der Familie Bally hat bisher noch niemand geknackt. Die Textilarbeiterinnen liegen ihr besonders am Herzen.
Ihre Begabung als Rednerin spricht sich schnell herum, jeder ihrer Auftritte wird zum Ereignis: «ein oratorischer Genuss». Die Leute strömen zu Hunderten herbei, um die junge Kollegin zu sehen und zu hören. Im SGB-Sekretariat versauern derweil die beiden altgedienten Kollegen Arnold Calame und Ferdinand Thies. Die umtriebige, freigeistige Margarethe passt so überhaupt nicht in die Strukturen und will sich auch gar nicht anpassen. Ganz im Gegenteil! Sie sagt: «Wenn die Männer zu zaghaft sind, so müssen die Frauen ihnen die Schlafmützen herunterziehen.» Und ihr schneller Erfolg gibt ihr Rückenwind. Faas-Hardegger ist «eine Genossin, die ins Land hinausgeht».
Draussen knüpft sie Kontakte zu den welschen Syndikalisten, zu Anarchisten und Antimilitaristen. Und gründet im Frühjahr 1906 die Zeitung «Die Vorkämpferin». Ohne Rücksprache mit den Kollegen.
Im Sommer 1906 erhält sie plötzlich die Kündigung. Auf Betreiben der Kollegen Calame & Thies. Begründung: «Die macht einfach, was sie will!»
Faas-Hardegger sei chaotisch und unzuverlässig, Gewerkschaftsarbeit und Sekretariat würden durch ihr Verhalten untergraben. Da gehen aber die Arbeiterinnenvereine, ihr Mentor Greulich und die welschen Gewerkschaften auf die Barrikaden. Die Kündigung wird zurückgezogen. Und Margarethe Hardegger macht genau so weiter wie bisher. Im Frühling 1907 gründet sie das französischsprachige Pendant zur Vorkämpferin, «L’Exploitée», wieder ohne Beschluss der Gremien. Die Stimmung im SGB-Sekretariat ist mittlerweile richtig feindselig. Doch die Vielreisende ignoriert’s.
RECHT AUF ABTREIBUNG UND FREIE LIEBE
Mitte August 1907 steigt in Stuttgart die erste Internationale Konferenz der sozialistischen Frauen. Mit Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Alexandra Kollontaj, Angelica Balabanoff usw. Und der 25jährigen Margarethe Hardegger, als offizielle Rednerin der Schweizer Delegation. Das Frauenstimm- und -wahlrecht wird von da an eines ihrer wichtigsten Anliegen. In den beiden Zeitungen der Arbeiterinnen thematisiert sie auch das Recht auf Abtreibung, die Gewalt in der Familie, die Rechtlosigkeit der Ehefrauen.
Nun aber sind die Führungsfrauen der Arbeiterinnenvereine brüskiert – zu freimütig, zu progressiv! Die Gescholtene nimmt die Kritik als Freipass und propagiert auch noch die freie Liebe und den Anarchismus. Hermann Greulich schaudert’s, er lässt sie fallen. Jetzt folgt die zweite Kündigung – und die ist definitiv. Exakt vier Jahre hat das Arbeitsverhältnis beim SGB gedauert, ein beidseitiges Missverständnis von Anfang an. Aber «der erste weibliche Sekretär» hat unumkehrbar dafür gesorgt, dass die «Frauenthemen» in der Gewerkschaftsbewegung gesetzt sind.
Hardegger bleibt chaotisch und leidenschaftlich politisch. Dreimal gründet sie eine Kommune, hat (berühmte) Anarchisten als Liebhaber und ihre Frauen zu Freundinnen. Sie unterstützt und hilft Frauen bei der Abtreibung und muss zweimal ins Gefängnis. Ihr Haus im Tessin wird in den 1930er Jahren zum Zufluchtsort für Emigrantinnen und Emigranten. Die Friedensaktivistin stirbt dort 1963 mit 81 Jahren an Herzschwäche.
work-Serie: Stimmrechtsfrauen
Am 7. Februar 2021 wird das nationale Stimm- und Wahlrecht der Frauen in der Schweiz 50jährig. Bis dann wird Gewerkschafterin und Historikerin Dore Heim die unerschrockensten und wichtigsten «Frauenrechtlerinnen» in einer work-Serie porträtieren. Bisher gewürdigt wurden: Katharina Zenhäusern, die als erste Schweizerin abstimmen ging. Iris von Roten, eine der radikalsten Denkerinnen der Sache der Frauen. Emilie Lieberherr, «Animal politique» wie keine andere Politikerin in der Schweiz. Josi Meier, die CVP-Politikerin, die sich eine eigene Meinung leistete. Martina Hälg-Stamm, die Pionierin in Mostindien. Dora Schmidt, die erste Bundesbeamtin der Schweiz. Und Rosa Bloch, die kompromisslose Revolutionärin. Alle Teile der Serie gibt es hier.