Jean Ziegler
Was muss im Kopf von Bürokratinnen und Bürokraten des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge in Genf vorgehen, wenn sie an das Flüchtlingslager von Kara Tepe im Norden von Mytilini denken, der Hauptstadt der griechischen Ägäis-Insel Lesbos? Über 7000 Überlebende des Brandes von Moria (am 12. September 2020), dem vormals grössten Flüchtlingslager auf europäischem Boden, sind in Kara Tepe eingepfercht, hinter dreifach gezogenem Nato-Stacheldraht.
SOMMERZELTE, WINTERSTÜRME. Die Bürokratinnen und Bürokraten aus Genf haben – auf Geheiss der Europäischen Union – Sommerzelte nach Lesbos geliefert. Diese Zelte haben keinen festen Bodenbelag, keine Bettgerüste, keine Heizung. Britische und deutsche Journalisten vom «Guardian» und der «Süddeutschen Zeitung» machten den Skandal öffentlich. Worauf die Uno-Bürokraten noch einige Tausend Schlafsäcke nachlieferten. Die Flüchtlinge hausen aber immer noch auf dem schlammigen Boden des direkt am Meer gelegenen ehemaligen Schiessübungsplatzes der griechischen Armee.
Auf Lesbos beginnt der Winter. Im letzten Jahr hat der Sturm «Zorba» Wellen bis zu zehn Meter in die Höhe geschleudert. Die Temperaturen fielen in einigen Nächten weit unter null Grad. «Zorba» zerriss mit seinen Sturmböen in den Flüchtlingslagern Zelte und drückte Wohncontainer ein. Latrinen liefen über, und die stinkende Brühe ertränkte Matratzen, Schlafsäcke und Behelfsküchen. Die Kälte war beissend. Kinder erfroren.
«Zorba» wird mit grosser Sicherheit auch in diesem Winter zurückkehren. Und auch in diesem Winter werden auf europäischem Boden Kinder erfrieren.
Die Hölle von Kara Tepe ist gewollt: Pro Tag wird nur einmal Essen ausgegeben, das oft ungeniessbar ist. Es gibt kein fliessend Wasser und nur eine häufig verdreckte Toilette für 300 Personen. Als Folge der schlimmen hygienischen Verhältnisse und fehlender medizinischer Hilfe sind Haut- und Darmkrankheiten weit verbreitet. Die gefangen gehaltenen Menschen sind verzweifelt, viele verletzen sich selbst oder versuchen, sich umzubringen.
Auch in diesem Winter werden auf europäischem Boden Kinder erfrieren.
ABSCHRECKUNG. Die EU will die Flüchtlinge auf diese Weise abschrecken. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht sie als «Gefahr für die europäische Lebensweise».
In der Schweiz stehen mehr als die Hälfte der Flüchtlingsunterkünfte leer. Im «Osterappell» vom letzten Jahr verlangten über 50’000 Bewohnerinnen und Bewohner unseres Landes die sofortige Aufnahme von 5000 Flüchtlingen aus Lesbos. Doch Bundesrätin Karin Keller-Sutter, die die Flüchtlingspolitik verantwortet, unterwirft sich der Abschreckungsstrategie der EU.
Flüchtlinge sind die Ärmsten unter den Armen. Um zu überleben, brauchen sie die Hilfe anderer Menschen. Auch von uns.
Zur Rettung der vom Kältetod bedrohten Kinder gibt es gegen die schändliche Herzlosigkeit der Mehrheit des Bundesrates nur eine Waffe: die Mobilisierung der sozialen Bewegungen, der Kirchen, der Gewerkschaften. Kurz: den Aufstand des Gewissens des demokratischen souveränen Volkes.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Im letzten Jahr erschien im Verlag C. Bertelsmann (München) sein neustes Buch: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.