Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.
«Wieder ein Jahr überstanden», stellt die Briefträgerin fest. «Wieder eine Runde älter.» Ist gut. Macht nichts. Sie denkt zurück: Der Teamchef, der sie vor mehr als einem Dutzend Jahren auf den Job abrichtete, impfte ihr unter anderem eine Leistungsorientierung ein, gegen die ihr Immunsystem sich kaum wehren konnte und die ihr heute noch zu schaffen macht. Wider besseres Wissen, sozusagen. Was eingetrichtert wurde, ist eben nicht so leicht wieder auszutrichtern. Zumal in einer leistungsbezogenen Umgebung.
ALTERSERSCHEINUNG. Jener Teamchef war ein paar Jahre älter als die Briefträgerin. Einmal, als trotz seinen Performance-Ansprüchen ein wenig Zeit zum Plaudern war, erzählte er ihr von den Alterserscheinungen und welchen Einfluss sie auf die Postarbeit hätten. Die Briefträgerin erinnert sich vor allem an seinen Hinweis, gerade die feinmotorischen Fähigkeiten würden im Alter nachlassen, was sich deutlich beim Sortieren von Papier bemerkbar mache.
Inzwischen weiss die Briefträgerin aus eigener Erfahrung, wovon er damals sprach. Sie ist heute weniger stresstauglich denn je. Bei kaltem Wetter beschlägt ihr Atem die Lesebrille, die nun auf ihrer Nase sitzt, die Haut ihrer Hände ist trockener als früher, die Sendungen rutschen ihr öfter aus den Fingern, und vor allem beim eiligen Abzählen der Promopost kommt sie sich manchmal ungeschickt und unbeholfen vor.
RESPEKT. Es gibt einige gesellschaftliche Trends, die die Briefträgerin nicht versteht. Einer davon ist der Jugendlichkeitswahn. Warum Jugendlichkeit behaupten, statt auf ein würdiges Altern zu pochen? Warum sich an den Jungen messen, statt einem Körper Respekt zu erweisen, der ein Leben lang seine Arbeit tat, und einem ebensolchen Gedächtnis? War-
um jugendhaft schnell sein wollen, statt eine Anpassung der Tempovorgaben als selbstverständlich einzufordern?
Jung im Herzen – das schon! Trotz oder gerade wegen der nachlassenden körperlichen Leistungsfähigkeit.