Die Briefträgerin & das Paradies

Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.

Beim Aufräumen fand die Briefträgerin die Zeitung «für unsere Mitarbeitenden», Ausgabe 6/20. Sie hatte sie noch nicht gelesen und tat das nun. Schwerpunkt der Jahresendausgabe war die neue Strategie «Die Post von morgen, das bin ich». Mitarbeitende aus allen Bereichen äusserten sich dazu und zu ihrer Arbeit. Die Briefträgerin erfuhr, dass es die «young voices» gibt, ein Netzwerk der «jungen Wilden», das sich starkmache für den Austausch zwischen den Generationen und sich selber Stimme sein wolle. Stichwörter: Mut, Offenheit, Spass, Sinn. Anderswo zeigt ein Mitarbeiter sich froh, dass die Post den Puls der Entwicklungen fühle und «Motor für eine moderne Schweiz» sein wolle. Auch die Identifikation mit dem Unternehmen sei wichtig. Etwas zu bewegen, Mehrwert generieren zu können als «raison d’être». Von «Leadership» ist die Rede, von «mich selber sein», «Wertschätzung», «Risikofreude», «Kundenorientierung», «Einzigartigkeit». «Die Dinge sagen, wie ich sie denke», «ehrlich, direkt». «Einander helfen», «Fehler wagen». «Die Menschen hinter den Logistik-Services sehen», «Menschen verbinden».

Die neue Postkultur ist eine jubilierende Du-Kultur.

HOI, ROBERTO. Der oberste Chef freut sich darauf, «die Post von morgen aufzubauen, miteinander, füreinander und für eine moderne Schweiz». Ein Interview mit ihm über den «grossen Transformationsprozess». Bereits auf Seite 13 von 43 ist die Briefträgerin gerührt und geschüttelt. Sie kommt sich als Angestellte des besten Betriebs der Welt vor (tatsächlich ist es nur die beste Post der Welt, preisgekrönt …). Alle sind so zuversichtlich, so aufgestellt. Alle wollen einander wertschätzen. Fehler sind nicht nur erlaubt, sondern geradezu erwünscht, sind sie doch der Motor des Lernprozesses. Die neue Postkultur ist eine jubilierende Du-Kultur. Und: «Wir bauen um, nicht ab!» – Kein Klirren von eisernen Besen mehr. Das Klima ist gemütlicher geworden. Weil Roberto (Cirillos) Charisma auch in die finstersten Winkel strahlt? So viel Gleichheit, Schwesterlichkeit, Integration und Mitverantwortung! Wie das Paradies auf Erden.

Verwirrt seufzte die Briefträgerin: «Schlange, wo bist du mit deinem Apfel?»

1 Kommentare

  1. Adrian Flükiger 5. Februar 2021 um 11:07 Uhr

    Sälü Katrin
    Guter Beitrag. Hast Du Dir schon das Video eingezogen, welches Herr Cirillo kurz vor Weihnachten hat aufschalten lassen? Wenn nicht, es hilft die Verwirrung noch zu vergrössern. Inhaltlich verpasst Du aber sonst nichts Entscheidendes. Lieber Gruss Ädu

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