Andreas Rieger
Es hätte wenig gefehlt – und Grossbritannien wäre in einem chaotischen Austritt aus der EU getorkelt. Doch dann kam die Einigung doch noch! An Weihnachten unterzeichneten die Verhandelnden aus Brüssel und London einen Kompromiss, bei dem beide Seiten Haare lassen. Er sieht Freihandel vor, ohne Teilnahme am europäischen Binnenmarkt und ohne Personenfreizügigkeit. Glücklich werden die Britinnen und Briten damit nicht werden. Denn der Export auf den Kontinent wird stocken, europäische Arbeitskräfte werden fehlen, und Schottland wird sich vielleicht loslösen wollen. Grossbritannien droht eine Zukunft als Kleinbritannien. Der grosse US-Bruder Donald Trump, auf den der britische Ministerpräsident Boris Johnson gesetzt hatte, ist jetzt auch weg.
Grossbritannien droht nun eine
Zukunft als Kleinbritannien.
EUROPAS SINGAPUR? In der Schweiz jubelt die SVP über den Abschluss und sieht in ihm ein Modell für unser Land. Freihandelsvertrag statt Bilaterale und keine Personenfreizügigkeit: da leuchten den Isolationisten & Blocheristen die Äuglein. Offenbar haben sie schon vergessen, dass ihre Kündigungsinitiative, die den Schwexit wollte, vom Volk vor gerade mal vier Monaten bachab geschickt wurde. Und der Erzbischof der Schweizer Neoliberalen, Gerhard Schwarz, jubilierte in der NZZ, der Brexit könnte zum Erfolg werden, wenn «es London gelingt, den Austritt für einen Deregulierungswettbewerb zu nutzen» und ein «europäisches Singapur» zu schaffen. Will heissen: tiefe Steuern, fette Banken und brutaler Lohndruck. In diese Richtung gibt es in der britischen Regierung schon erste Versuchsballone, die beim neuen Arbeitsgesetz den bisherigen Arbeitnehmerschutz kappen sollen.
SINKENDES SCHIFF. Und wie geht es seither dem vorliegenden Entwurf des Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU? Kaum jemand glaubt hier noch, dass er in einer Volksabstimmung mehrheitsfähig ist. Scharenweise verlassen bürgerliche Politiker und Unternehmer das sinkende Schiff. Entweder beginnt der Bundesrat nun substantielle Nachverhandlungen, oder er leitet den Abbruch der Übung ein. Im Hinblick auf einen späteren Neustart. Dass die EU am Verhandlungstisch durchaus zu Kompromissen bereit ist, die sie vorher kategorisch ausgeschlossen hat, zeigt die Einigung mit Grossbritannien.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.