Nur weil Theresia Rohner vor Bundesgericht klagt, führt der Kanton Appenzell Innerrhoden 1990 endlich das Frauenstimmrecht ein. Doch statt Glückwünschen gibt es Morddrohungen.
SIEG DER HARTNÄCKIGKEIT: Theresia Rohner 1990 vor dem Bundesgericht in Lausanne. (Foto: Keystone)
Die letzte Schweizer Männerbastion fällt an einem kalten Dienstagvormittag. Es ist der 27. November 1990. Im grossen Saal des Bundesgerichts in Lausanne beraten sechs Richter und eine Ersatzrichterin darüber, ob Frauen im Kanton Appenzell Innerrhoden künftig auch abstimmen und wählen dürfen. Es ist eine Diskussion wie aus der Zeit gefallen: 20 Jahre nach der Einführung des nationalen Frauenstimmrechts verbieten es die Innerrhödler «ihren» Frauen noch immer stur, auch in kantonalen Belangen politisch mitzureden
Schon drei Mal haben die Männer an der Landsgemeinde das Frauenstimmrecht abgeschmettert. Jetzt aber greift das oberste Gericht durch. Das Urteil, das einstimmig fällt, ist gleichzeitig ein Befehl: Der Kanton Appenzell Innerrhoden muss den Frauen das Stimm- und Wahlrecht verleihen. Und zwar sofort.
Kein Anwalt im Kanton war bereit, beim Bund Klage einzureichen.
DER ERSTE ANLAUF
Für Theresia Rohner ist das der Sieg. Sie ist es, die über ein Jahr zuvor den Stein ins Rollen gebracht hat. Damals, im April 1989, stellt sie – Töpferin, Geschäftsinhaberin und Mutter von zwei Töchtern – bei der Kantonsregierung den Antrag, bei der nächsten Landsgemeinde endlich auch Frauen zuzulassen. Und mit dem Rest der Schweiz gleichzuziehen. Denn: «Wir galten als Exoten. Die Situation war unmöglich.»
Den Antrag reicht Rohner alleine ein. Obwohl sie nicht die einzige ist, die sich ärgert. Doch keine andere wagt es, mitzumachen. In einem ihrer seltenen Interviews sagt Rohner später: «Alle Freundinnen und Bekannten haben sich abgewendet. Ich stand alleine da.»
Vor allem, als die damals 35jährige noch einen Schritt weitergeht: Nachdem die Kantonsregierung ihren Antrag innert nur zweier Wochen abgelehnt hat, legt Theresia Rohner nach – und klagt. Gestützt auf die Bundesverfassung, in der seit 1981 die Gleichstellung zwischen Mann und Frau verankert ist.
Weil in Innerrhoden kein Anwalt bereit ist, gegen den Kanton zu klagen, sucht sich Rohner Hilfe von aussen. Mit der St. Galler Anwältin Hannelore Fuchs übernimmt eine leidenschaftliche Kämpferin für Frauenrechte. Am 22. Mai 1989 reichen die zwei Frauen beim Bundesgericht schliesslich eine Stimmrechtsbeschwerde ein. Für viele im Kanton eine absolute Provokation.
Das erneute Nein vom 29. April bringt das Fass zum Überlaufen.
TOBENDE MÄNNER
Das Bundesgericht in Lausanne möchte den Innerrhödlern derweil eine Chance geben, doch noch selber zur Vernunft zu kommen. Also leitet es Rohners Beschwerde an den Kanton zurück. Tatsächlich kommt das Frauenstimmrecht als Traktandum Nummer 8 auf die nächste Abstimmungsliste. Doch das heizt die Stimmung kräftig an. In der Zeitung äussert einer: «Nur faule Weiber, die den ganzen Tag im Café herumsitzen und fünf vor zwölf eine Raviolibüchse öffnen, wollen das Stimmrecht.» Während andere behaupten, der Landsgemeindeplatz sei zu klein, um die Frauen auch noch mitabstimmen zu lassen.
Als sich die Männer schliesslich am 29. April 1990 zur Landsgemeinde versammeln, brauchen sie nur gerade 28 Sekunden, um das Frauenstimmrecht erneut abzuschiessen. Einige jubeln: «Den Weibern haben wir es heute gezeigt!»
Doch für Theresia Rohner ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und jetzt steht sie auch nicht mehr alleine da. 100 Frauen und Männer gehen mit ihr ein zweites Mal nach Lausanne. Dort macht das Bundesgericht reinen Tisch. Es stellt klar: «Wer den Frauen dieses Recht verweigert, verstösst gegen die Bundesverfassung.»
STILLE HELDIN
Als Theresia Rohner kurz nach der Urteilsverkündung auf den Stufen vor dem Bundesgericht steht, im langen schwarzen Mantel, ein Tuch im Haar und einen Fransenschal um den Hals, schiesst ein Fotograf eines der wenigen öffentlichen Bilder von ihr. Denn kurz nach ihrem Sieg zieht sich Rohner zurück. Während die Medien auf der ganzen Welt das Urteil feiern, ist man(n) zu Hause in Appenzell alles andere als erfreut. Einige wüten: «Die Frauen sollen lieber in den Spitälern die Nachthäfen leeren und Hintern putzen.» Und während Rohner schon vor dem Urteil mit anonymen Anrufen bedroht wurde, kommen jetzt Morddrohungen per Post. Einmal fliegt sogar ein Stein durchs Fenster. Die Familie wird unter Polizeischutz gestellt.
Als Theresia Rohner im April 1991 schliesslich zum ersten Mal an einer Landsgemeinde teilnimmt, hat sie weiche Knie. Doch alles geht gut. «Es war, als ob wir schon immer dagestanden wären», erinnert sie sich später.
Heute lebt Rohner im Berner Oberland. Es ist still geworden um sie, Interviews gibt sie kaum. In der Migros-Zeitung sagte sie 2011 aber rückblickend: «Ich habe damals etwas fürs Leben gelernt: dass es Situationen gibt, wo man hinstehen und sich wehren muss.»