Andreas Rieger
Ist die EU sozial oder antisozial? Ein alter politischer Streit. Hat die EU nicht europaweit die Sparpolitik vorangetrieben, die Erhöhung des Rentenalters, das Einfrieren der Löhne, härtere Bestimmungen für Arbeitslose? Für einige ist die EU derart antisozial, dass sie sich lieber im eigenen Land abschotten wollen. Doch mit der antisozialen Politik verlor «Brüssel» immer mehr an Unterstützung. Davon profitiert haben die rechten Nationalisten. Darum hat die EU-Kommission vor vier Jahren die «Säule der sozialen Rechte» initiiert. Erste soziale Fortschritte folgten, so zum Beispiel mehr bezahlter Urlaub für Väter und Mütter. Und ein europäisches Arbeitsinspektorat zur Bekämpfung von Lohndumping.
Kein Grund, im Schweizer Réduit zu schmollen.
AKTIONSPLAN. Die neue EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schrieb das soziale Europa dann direkt auf ihre Fahnen. Jetzt legt sie einen Aktionsplan mit zwanzig guten Punkten auf den Tisch: einem Mindestlohn, der zum Leben reicht; garantierter Beschäftigung für Jugendliche nach der Ausbildung; verstärktem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz; Bekämpfung der Kinderarmut und anderem mehr. Am 6. Mai soll dieses Paket am EU-«Sozialgipfel» im portugiesischen Porto verabschiedet werden.
Nur: Die EU kann in der Mehrzahl dieser Bereiche gar keine verbindlichen Regelungen beschliessen. Denn Sozial- und Lohnpolitik liegen in der Kompetenz der einzelnen Mitgliedländer. Die EU ist durch ihre Verfassung grundlegend eine Wirtschaftsunion und eben leider keine Sozialunion. Weil diese Grundkonstruktion der EU schief ist, fordert der Europäische Gewerkschaftsbund seit langem soziale Ergänzungen der EU-Verträge. Vergeblich! So besteht die aktuelle EU-Sozialpolitik denn aus Empfehlungen oder im besseren Fall aus Mindeststandards, die jedes Land in verbindliches Recht umsetzen soll. Das geschieht derzeit oft. Deshalb erlebt Europa gegenwärtig eine erfreuliche Renaissance der Sozialpolitik.
LOHNGLEICHHEIT. Viele Elemente der «sozialen Säule» wären übrigens auch für die Schweiz ein Fortschritt. So zum Beispiel die EU-Massnahmen für Lohngleichheit. Sie sind weit griffiger als das Schweizer Gesetz. Kein Grund also, über die antisoziale EU zu schimpfen und im Schweizer Réduit zu schmollen.