Jean Ziegler

Jean Ziegler

Ob Sonnenschein oder Regen, tagtäglich von 9 bis 19 Uhr stehen die Menschen Schlange vor dem Impfzentrum M-3 an der Route de Chêne no 20 in Genf.

Niamey, die staubige Hauptstadt der Republik Niger, des zweitärmsten Landes der Welt: Hier steht niemand Schlange vor einem Impfzen­trum. Denn Niger hat kein Geld, um für seine
10 Millionen Menschen Impfstoffe zu kaufen.

PATENTSCHUTZ. Das Impfgeschäft ist der Traum aller Kapitalistinnen und Kapitalisten: Die öffentliche Hand zahlt Milliarden für die Forschung, und die Konzernmogule streichen den privat definierten Profit des fertigen Produkts ein.

In etwas mehr als einem Jahr hat die Covid-Seuche über 2,5 Millionen Menschen getötet. Tausende sterben jeden Tag.

Warum muss die Staatengemeinschaft dringend die Patente auf Covid-Impfstoffen, Testmaterialien und Medikamenten aussetzen? Aus zwei Gründen: Es geht zum ersten um planetarische soziale Gerechtigkeit. Die Hälfte der Weltbevölkerung hat gemäss Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht die Mittel, um die Impfstoffe zu kaufen. Doch zum zweiten kennt das Virus keine Grenzen. Kann es sich in Entwicklungsländern weiterentwickeln, mutieren, dann ist auch bei uns die Wirksamkeit von Impfungen nicht mehr garantiert.

Es gibt drei Instanzen, die die sofortige Auf­hebung des Patentschutzes verlangen: General­direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus von der WHO; Süd­afrika und Indien, unterstützt von 100 weiteren Staaten; und eine Koalition westlicher, auch schweizerischer Organisationen der Zivilgesellschaft.

Dagegen betätigen sich die bürgerliche Mehrheit des Bundesrates, die Kommission der Europäischen Union und die Vereinigten Staaten als Söldner der Pharmakonzerne. Sie bekämpfen vehement jede Lockerung des Patentschutzes.

Wir müssen durch­setzen, dass die Covid-Impfstoffe zu öffentlichen Gütern erklärt werden.

HELVETISCHE SCHEINHEILIGKEIT. Der Bundesrat sagt: «Alle Völker müssen Zugang zu Impfstoffen, Medikamenten und Testmaterial haben.» Ein Muster helvetischer Scheinheiligkeit! Anstelle einer Aufhebung des Patentschutzes verweist die Regierung auf «Covac», die internationale Stiftung, die Geld sammeln soll, um Impfstoffe für die ärmsten Staaten der Welt zu kaufen. Die Stiftung erhält jedoch nur völlig unzureichende Mittel.

Die zeitweilige Aussetzung des Patentschutzes ist technisch und juristisch überhaupt kein Pro­blem. Im November 2001 tagte die Welthandelsorganisation, die für den Schutz des intellektuellen Eigentums zuständig ist, in Doha, der Hauptstadt von Katar. Es war die Zeit des ungebremsten Wütens der Aids-Epidemie. Brasilien und Indien setzten damals durch, dass die Patente auf Anti-Aids-Medikamente ausgesetzt werden. Die Bestimmungen des Doha-Vertrages sind klar: Ein Land, das sich in einer verzweifelten gesundheitlichen Situation befindet, hat das Recht, Medikamente oder Impfstoffe zum Herstellungspreis zu beziehen, bis die Krankheit besiegt ist.

Diese Klausel des Vertrages von Doha muss reaktiviert werden. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Jede und jeder von uns ist verantwortlich auch für die Covid-Todesopfer in der Dritten Welt. Wir müssen durchsetzen, dass der Bundesrat sich der südafrikanisch-indischen Forderung anschliesst und die Covid-Impfstoffe zu universellen öffentlichen Gütern erklärt.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Aus­schusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Im letzten Jahr erschien im Verlag C. Bertelsmann (München) sein neustes Buch: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.

1 Kommentare

  1. Claudia Stern 11. April 2021 um 21:48 Uhr

    An die Redaktion:
    Bis jetzt war ich ein großer Fan von Jean Ziegler.
    Heute habe ich gesehen, dass Herr Ziegler im Beirat von „rubikon“ ist. Wie verträgt sich der Inhalt der Artikel auf der Website von rubikon mit diesem Artikel?
    Oder ist es nicht der gleiche Jean Ziegler?

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