Jean Ziegler
Samstagmorgen, 22. Mai. Bei mir in Russin klingelt das Telefon. Am Apparat ist mein Freund Ayman Nasrallah. Seine Stimme zittert: «Sie leben, Genosse Jean! Sie haben überlebt … alle!»
Ayman Nasrallah ist Garagist in Genf und Mitglied der SP. Er stammt aus einer uralten Familie aus Gaza. Sein ältester Bruder, der Chef des 28köpfigen Familienclans, ist Präsident des Bezirksgerichtes von Gaza Stadt.
Seit dem 11. Mai donnerten Bomber der israelischen Luftwaffe über die Stadt, über Chan Yunis, das Flüchtlingslager Al-Shati und andere Orte des 41 Kilometer langen und zwölf Kilometer breiten Ghettos von Gaza, in dem zwei Millionen Menschen wohnen.
Die israelischen Brand- und Splitterbomben begruben 253 Menschen, davon 66 Kinder, unter 162 Wohnhäusern, 4 Spitälern und 16 Schulen. Fast 2000 Palästinenserinnen und Palästinenser wurden schwer verletzt.
Der israelische Staatsterror ist die Antwort auf den palästinensischen Widerstand in Jerusalem.
ETHNISCHE SÄUBERUNG. Der israelische Staatsterror ist die Antwort auf den palästinensischen Widerstand in Jerusalem. Anfang April wurden im Ostjerusalemer Quartier Sheikh Jarrah zwölf palästinensische Familien aus ihren Häusern verjagt. Rechtsextreme jüdische Siedler zogen ein. Dagegen protestierten auf dem Tempelberg – in und vor der al-Aqsa-Moschee – Tausende Palästinenser. Die Polizei schoss in die Menge.
Die muslimische Hamas, die seit 2007 das Ghetto von Gaza beherrscht, feuerte als Zeichen ihrer Solidarität Raketen auf den Süden Israels ab. Zwölf Menschen, darunter ein Kind, starben. Premierminister Netanyahu reagierte mit der Bombardierung des Ghettos.
Wer diese Politik Israels kritisiert, wird von der Regierung in Tel Aviv und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern in Europa routinemässig als «Antisemit» diffamiert. Antisemitismus ist in der Schweiz ein Verbrechen, ein Offizialdelikt gemäss dem Strafgesetzbuch.
ANTISEMITISMUS? Der pauschale Vorwurf ist unsinnig. Die Apartheid-Strategie Netanyahus wird auch von B’Tselem, der grössten israelischen Nichtregierungsorganisation, kritisiert; von bedeutenden israelischen Intellektuellen wie Lea Tsemel, Michael Warschawski oder Ilan Pape und von ehemaligen israelischen Soldaten der Bewegung «Break the Silence». Seit diesem März ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofes Fälle von möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den besetzten Gebieten.
Am 15. Mai protestierten in Genf, Zürich, Basel und Biel Hunderte gegen Israels Staatsterror und das Schweigen des Bundesrates. In Genf forderte SP-Ständerat Carlo Sommaruga eine Verurteilung der Massaker an der Zivilbevölkerung, den Einsatz der Schweizer Diplomatie für die Schaffung eines souveränen palästinensischen Staates und die sofortige Beendigung der schweizerisch-israelischen Militärkooperation sowie gesicherte Grenzen für Israel.
Sommarugas Forderungen verdienen unsere volle Unterstützung.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neustes Buch ist: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
Werter Herr Ziegler, es ist eine Weile her, dass ich einen Text von Ihnen gelesen habe.
Aber ich hatte immer das Gefühl, dass Sie auf der „richtigen“ Seite stehen, auf der Seite der Menschlichkeit. Heute jedoch verstehe ich Sie nicht mehr.
Ich bin ganz sicher kein Freund Netanjahus. Aber was das wahllose verschiessen tausender Raketen mit dem einzigen Ziel, möglichst viele Menschen zu töten, mit Solidarität zu tun haben soll – ich denke, da habe ich einen anderen Begriff von Solidarität.
Solidarität mit den Menschen im Gazastreifen: ja, unbedingt – gegen das Regime der Hamas, zu deren Zielen die Vernichtung Israels und die der Juden gehört.
Kürzlich las ich von einem sehr bezeichnenden Gedankenexperiment (Mitte Mai, als die Hamas noch Israel mit Raketen terrorisierte und Israel sich gegen diese Angriffe wehrte): Stellt die Hamas heute den Raketenterror ein, endet die Gewalt morgen. Legt Israel heute die Waffen nieder, gibt es morgen kein Israel und keine Jüd*innen in Nahost mehr. Und das ist der Unterschied.
Übrigens werden in Israel durchaus Prozesse gegen Soldaten wegen Verbrechen während Einsätzen geführt – und es kommt zu Verurteilungen. Hamas und ähnliche Organisationen kennen sowas nicht. Dort wird jeder erfolgreiche Terrorist zum Märtyrer erklärt.
Sie schreiben von rechtsextremen und gewalttätigen Jüd*innen – aber Sie schreiben nicht, dass die israelische Polizei auch gegen diese vorgeht – mit gleicher Gewalt wie auch gegen andere gewalttätig Demonstrierende. Sie sorgt für Ruhe und Ordnung gegen alle Seiten, egal wie der*die Ministerpräsident*in heisst.
Und die einzigen, die in diesem Konflikt „ethnische Säuberungen“ wollen und durchführen würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten, sind beileibe Terrororganisationen, nicht der israelische Staat.
In solidarity with Israel I stand.