Bundesrat unterzeichnet Rahmenabkommen nicht:
Blochers Erfolg? Von wegen!

Das Rahmenabkommen in der von FDP-Bundesrat Cassis ausgehandelten Form ist Geschichte. Ein Erfolg der Gewerkschaften, weil bei einer Unterzeichnung der Lohnschutz geschliffen worden wäre.

GANZ IN SCHWARZ: Bundesräte Ignazio Cassis, Guy Parmelin und Bundesrätin Karin Keller-Sutter (v. l.) auf dem Weg zur Beisetzung des abgestürzten Rahmenabkommens. (Foto: Keystone)

26. Mai 2021, 15.45 Uhr: Drei Mitglieder der Landesregierung reihen sich vor den Medienleuten auf. Bundespräsident Guy Parmelin (SVP), Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) und Justizministerin Karin Keller-Sutter (auch FDP).

Der wackere Waadtländer Weinbauer Parmelin verkündet, vom Blatt ablesend, staatsmännisch das Ende des Rahmenabkommens in der vorliegenden Form. Verantwortlich für das Scheitern ist Ignazio Cassis, der von der SVP in den Bundesrat gehievte Tessiner. Er versprach vor seiner Wahl, bei den Verhandlungen den «Reset-Knopf» zu drücken. Das ist ihm hervorragend gelungen. Nur nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte: Statt sein Rahmenabkommen haben wir jetzt kein Rahmenabkommen.

Sofort nach dem Aus setzte von rechts her die Umdeutung
der Geschehnisse ein.

Aber wendig, wie der anpassungsfähige Cassis ist, sieht er keinen Fehler bei sich. Er parliert dreisprachig, wo er das Problem sieht: bei der Unionsrichtlinie. Also beim erweiterten sozialen Schutz für hier lebende EU-Bürgerinnen und -Bürger. Den Schutz der Schweizer Löhne erwähnt er erst an zweiter Stelle. Was eigentlich keine Überraschung ist. Denn den Lohnschutz und die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit wollte er im ­Auftrag seiner marktradikalen Freunde über den «Umweg» Rahmenabkommen schleifen. Dumm für ihn, dass die Gewerkschaften und allen voran der damalige SGB-Präsident Paul Rechsteiner trotz politischer Sommerpause aufmerksam waren und Alarm schlugen (siehe Seite 7). Cassis’ Bubentrickli war aufgeflogen, bevor es zum Fliegen kam.

In der Folge sollte der da­malige Volkswirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (FDP) kitten, was nicht mehr zu kitten war. Weil Cassis die «roten ­Linien», die der Bundesrat gemeinsam mit den Sozialpartnern definiert hatte, mutwillig überschritten hat. Oder noch konkreter: Er und seine Leute haben der EU versprochen, was sie nicht hätten versprechen dürfen. Und Cassis hat dem Vernehmen nach EU-Kommissar Johannes Hahn auf dem Brüsseler Flughafen Zaventem per Handschlag zugesagt, das Rahmenabkommen sei in trockenen Tüchern. Übrigens: in seiner ganzen bisherigen Amtszeit hat es Cassis nie ins «offizielle» Brüssel geschafft. Lieber trieb er sich auf Minen des menschenrechtsverletzenden Zuger Rohstoffkonzerns Glencore herum. Und polemisierte gegen das UN-Hilfswerk für Palästina (UNRWA).

RECHTE MÄRLI I

Umgehend setzten Wirtschaftsverbände und die bürgerlichen Parteien von der FDP bis zu den rechten Grünen von der GLP zum ­Powerplay gegen die Gewerkschaften und die fortschrittlichen Parteien an. Via messdienerische Journalisten versuchten sie zu verbreiten, die Gewerkschaften hätten sich ins Lotterbett mit den ­Nationalisten gelegt.

Dabei ist es genau umgekehrt. Die SVP hätte bestens leben können mit der Schleifung des Lohnschutzes. Bei der Lancierung ihrer sogenannten Selbstbestimmungsinitiative war sie da noch ehrlich. Es gehe darum, die flankierenden Massnahmen zur Per­sonenfreizügigkeit abzuschaffen, tiefere Löhne durchzusetzen und weniger Gesamtarbeitsverträge sowie weniger Arbeitnehmendenschutz. Also genau das Cassis-­Programm. Die doppelzüngige Milliardärspartei ist im letzten September vor dem Volk mit einer Anti-Bilateralen-Initiative einmal mehr krachend gescheitert.

HIN UND HER: FDP

Einen besonderen Slalomlauf legte die FDP beim Rahmenabkommen hin: Zuerst vollste Unterstützung für ihren hybriden FDP/SVP-Bundesrat Cassis. Und für die Wirtschaftsverbände. Noch im Februar 2019 teilte die Fraktion mit, sie sage klar «Ja aus Vernunft zum Rahmenabkommen». Dieses sichere den «enorm wichtigen» Fortbestand des bilateralen Weges. In den kommenden Monaten wuchs auch beim Freisinn die Einsicht, dass dieses Rahmenabkommen in einer Volksabstimmung keine Chance hätte. Nicht gegen die fundamentale Ablehnung der SVP und die Kritik der fortschrittlichen Kräfte. Zum Schluss waren nur noch die GLP und eine halbe Handvoll gewerkschaftsferne SP-Mitglieder engagiert für das Abkommen.

RECHTE MÄRLI II:

Sofort nachdem der Bundesrat die Reissleine gezogen hatte, setzte von rechts her die Umdeutung der Geschehnisse ein. War ihr Narrativ vorher, die Gewerkschaften hätten der SVP zum Erfolg verholfen, war es jetzt plötzlich Drachentöter Blocher, der gesiegt hatte. Das Gegenteil ist richtig: Dieses Rahmenabkommen war in jenem Moment tot, als Cassis den Lohnschutz preisgeben wollte. Was hat Blocher also «gewonnen»? Vielleicht noch ein bisschen mehr Huldigungen von seinen Parteischafen und bei jenen Medienschaffenden, die noch dann nach Herrliberg pilgern werden, wenn dort nur noch ein Mausoleum steht.


Anderes Rahmenabkommen:So geht es jetzt weiter

Im Unterschied zu den bürgerlichen Parteien waren die fortschrittlichen Parteien und die Gewerkschaften immer stringent in ihrer Haltung: Ja zu einem Rahmenabkommen, aber einem, das die Schweizer Löhne effizient schützt und ermöglicht, sie noch effizienter zu schützen. Das ist machbar, wenn der von Cassis angerichtete Scherbenhaufen zusammengewischt ist. Den ersten Schritt dazu hat bereits der Bundesrat gemacht: Cassis ist de facto aus dem Rennen. Neu ist seine Parteikollegin Karin Keller-Sutter die starke Frau im Dossier, zusammen mit SVP-Wirtschaftsminister Parmelin. Was Cassis bleibt: das Mitleid seines Mentors Christoph Blocher auf «Teleblocher». Mitleid ist in der Blocher-Bewegung die Höchststrafe für Versager.

Keller-Sutter will mit den Sozialpartnern an einen Tisch sitzen.

SOZIALPARTNER. Keller-Sutter will sich jetzt mit den Sozialpartnern an den Tisch setzen. Um ­einen Weg zu finden, wie die bilateralen Beziehungen stabil gehalten werden können. Das wäre schon vor Jahren möglich gewesen. Offensichtlich sind jetzt auch die ­vernünftigen Arbeitgeber und bürgerliche Politikerinnen und Politiker zur Einsicht gelangt, dass gegen die Gewerkschaften in der Europafrage nichts geht.

Vorschläge, wie es jetzt vorwärtsgerichtet vorangehen könnte, sind vorhanden. In letzter Minute hat CVP-Bundesrätin Viola Amherd ­einen eigenen Vorschlag eingebracht, der nahe an den gewerkschaftlichen Überlegungen ist: Lohnschutz bleibt aussen vor, Unionsrichtlinie mit einer Schutzklausel übernehmen und den Service public schützen. Und SP-Co-Präsident Cédric Wermuth brachte – neben einem mittel­fristigen EU-Beitritt auch einen EWR-Beitritt ins Spiel.

RESOLUTION. Der Unia-Kongress wird eine europapolitische Resolution verabschieden. Deren Eckpunkte beschreibt Präsidentin Vania Alleva auch im work-Interview (siehe Seiten 10–11).

Flankierende: Mehr Kontrollen dringend

Wie zentral der Lohnschutz durch flankierende Massnahmen (FlaM) für die Beschäftigten ist, zeigt auch der neuste FlaM-Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). 2020 haben Kontrolleurinnen und Kontrolleure 130’000 Löhne überprüft und deckten dabei in 18 Prozent der Fälle zu tiefe Löhne auf.

LÜCKEN SCHLIESSEN. Noch immer wird in vielen Kantonen wenig bis fast gar nicht kontrolliert. Wer wenig kontrolliert, öffnet Lohndumping Tür und Tor. Die Gewerkschaften fordern deshalb seit Jahren, dass die bestehenden Lücken im Lohnschutz geschlossen und die Kontrollen verstärkt werden.

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