Kämpferischer, bewegter, offener: Das war das Rezept, wie die Gewerkschaftsbewegung seit den 1990er Jahren aus einem Tief wieder auf die Erfolgsspur kam. Zwei Insider erzählen jetzt erstmals die ganze Story.
FULMINANT: Die Rente mit 60 für die Bauleute war einer der grössten Erfolge der Gewerkschaftsgeschichte. 2018 erreichten die Baubüezer, dass es diese Rentenregelung heute nocht gibt. (Foto: Unia)
Warum ist die Unia heute eine erfolgreiche Gewerkschaft? Und dazu noch eine einflussreiche politische Kraft? Weil zu Beginn der 1990er Jahre eine gewerkschaftliche Wende stattfand. Dies ist die These von Vasco Pedrina und Hans Schäppi. Zwei Gewerkschafts-Urgesteine: Pedrina war einst Chef der Bau- und Industriegewerkschaft GBI und später Co-Präsident des Gewerkschaftsbunds, Schäppi leitete die frühere Chemiegewerkschaft GTCP.
KÄMPFERISCHER
Die Wende heisst: Damals verabschiedete sich die GBI vom alten Gewerkschaftsmodell der Nachkriegszeit: von der Beschränkung auf Gesamtarbeitsverträge und Lohnverhandlungen und auch von der absoluten Friedenspflicht. Stattdessen sollte die Gewerkschaft bewegter, kämpferischer und offener werden. Oder mit den Worten von Pedrina und Schäppi: «Die Gewerkschaft wird als gesellschaftliche Bewegung und soziale Gegenmacht zum Kapital verstanden.» Und das Wichtigste: «Sie muss in der Lage sein, ihre Kämpfe erfolgreich zu führen.»
Pedrina und Schäppi haben sich aufgemacht, in einem Buch diesen umwälzenden Prozess im Detail aufzuzeigen. Ihr Werk «Die grosse Wende in der Gewerkschaftsbewegung» erscheint rechtzeitig zum Unia-Kongress (siehe Seiten 10 bis 13). Die Delegierten des Unia-Kongresses erhalten es zugeschickt. Nicht von ungefähr. Der Blick in die Vergangenheit soll nämlich auch den Sinn für die Zukunft schärfen. Mit dem Projekt «Unia 2.0» steht wieder eine grössere Reform an. Sie soll es der Unia erlauben, die aktuellen Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen.
Der neue, offensive Kurs brachte grosse Erfolge.
POLITISCHER
Die Wende mit der GBI kam einer fundamentalen Neuausrichtung gleich. Die Gewerkschaft sollte moderner, beweglicher, professioneller, basisnäher und politischer werden. Den Anstoss dazu gab die lange Rezession von 1991 bis 1997. Die Arbeitslosenzahlen stiegen, gleichzeitig bliesen die Arbeitgeber zum Angriff auf die sozialen Errungenschaften. Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung lautete das neoliberale Abbruchprogramm. Dem mussten die Gewerkschaften als Hüterinnen der Interessen der Arbeitnehmenden etwas entgegensetzen. Sie durften nicht politisch passiv bleiben und dem «ungeschminkten Klassenkampf von oben», wie es Pedrina und Schäppi nennen, tatenlos zuschauen.
GRÖSSER
Diese Krise war die Triebfeder für Fusionen. 1993 schlossen sich die Baugewerkschaft GBH und die Chemiegewerkschaft GTCP zur neuen Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) zusammen. Ein «Weckruf», so Pedrina und Schäppi. Denn auch in der grossen Metallgewerkschaft Smuv reifte der Gedanke, dass man mehr ausrichten könne, wenn man gemeinsam statt separat kämpfe. Allerdings dauerte es dann zehn Jahre mit vielen teils mühsamen Diskussionen, bis im Jahr 2004 die heutige Unia entstand – und damit die grösste und mächtigste Gewerkschaft, die die Schweiz je sah.
In sehr erhellenden Analysen machen Pedrina und Schäppi klar, welche Riesenarbeit in all diesen Jahren zu bewältigen war. Wirtschaftskrise, Aufstieg der SVP, Angriff auf die Arbeitnehmerrechte, Abzockerei in den Konzernen – das alles ging den Gewerkschaften ans Mark. Die Arbeitgeber sprachen ihnen sogar die Existenzberechtigung ab, und Gesamtarbeitsverträge sollten plötzlich nur noch ein «Auslaufmodell» sein. Dagegen brauchte es neue Abwehrinstrumente. Am wichtigsten war, wieder mobilisierungs- und streikfähig zu werden. Denn nur wer Arbeitskämpfe auch gewinnen kann, verschafft sich Respekt, so die Überzeugung der neuen GBI-Führung. Aber auch auf der politischen Ebene sollten die Gewerkschaften handlungsfähig werden, nämlich durch Referenden und Initiativen.
ERFOLGREICHER
Dieser neue, offensive Kurs der GBI und später auch der Unia brachte bald Erfolge. Das zeigen die beiden Autoren schlüssig auf. Paradebeispiel ist die Rente mit 60 für Bauarbeiter, die mit einer Grosskampagne 2004 durchgesetzt werden konnte. Aber auch die Kampagnen gegen Tieflöhne unter 3000 beziehungsweise 4000 Franken im Dienstleistungssektor waren ein Erfolg. Nur deshalb hat die Schweiz heute keinen so grossen Tieflohnsektor wie Deutschland. Bereits in den 1990ern gab es politische Durchbrüche. Zum Beispiel, als das Volk 1996 dank einem gewerkschaftlichen Referendum mehr Sonntagsarbeit an der Urne ablehnte. Oder als 1999 das Streikrecht in die Verfassung kam.
SCHWIERIGER
Waren also die letzten dreissig Jahre eine einzige gewerkschaftliche Erfolgsgeschichte? Natürlich nicht. Pedrina und Schäppi beleuchten auch viele Schwierigkeiten, Mängel und ungelöste Probleme. Zum Beispiel das Vertrauensleute-Netz. Es gelang nicht, dieses wie erwünscht in den Betrieben zu stärken. Oder die Mitgliederzahl zu steigern. Aber braucht es das überhaupt, oder geht Gewerkschaft auch ohne Mitglieder, wie das etwa in Frankreich diskutiert wird? Pedrinas und Schäppis Antwort ist klar: Nein, das geht nicht. Denn eine Gewerkschaft ist eine Bewegung von Menschen, die solidarische Werte und ein ideelles Engagement teilen: «Erfolgreiche Gewerkschaftspolitik kann nur im Kollektiv entstehen.»
Vasco Pedrina, Hans Schäppi: Die grosse Wende in der Gewerkschaftsbewegung, Rotpunktverlag Zürich, 256 Seiten, CHF 25.–.
Buch gewinnen
work verlost 10 Exemplare des neuen Buches Die grosse Wende in der Gewerkschaftsbewegung. Und so geht’s: Mail an redaktion@workzeitung.ch, Betreff: Die grosse Wende.
Neues Buch: Geschichte eines Aufbruchs
Das Buch «Die grosse Wende der Gewerkschaftsbewegung» hat das Zeug zum Klassiker. Denn es handelt 30 Jahre Schweizer Zeitgeschichte aus engagierter Gewerkschaftssicht ab. Leider bilderlos, was ziemlich bedauerlich ist.
Die beiden Autoren Vasco Pedrina und Hans Schäppi haben Analysen von Aktivistinnen und Aktivisten wie Bernd Körner, Irène Huber, Zita Küng, Bruno Bollinger oder Beat Ringger beigezogen. Plus ein markantes Vorwort von Unia-Chefin und Herausgeberin Vania Alleva. Die Delegierten des Unia-Kongresses erhalten es zugeschickt.