«Sozialpartner» oder «Vertragspartner», «Friedenspflicht» oder «Kampfbereitschaft»? Der Unia-Kongress führte eine alte gewerkschaftliche Diskussion neu.
DIGITAL UND ANALOG: Die Delegierten der Sektoren und der Interessengruppen nahmen in der Unia-Zentrale in Bern am Kongress teil. (Foto: Unia)
Antrag 0 40 zur Organisationstrategie / neuer Punkt 5.5: «Wir behalten uns in Konfliktfällen die Möglichkeit offen, auch bei bestehender Sozialpartnerschaft oder bestehenden GAV von unserem Recht auf Streik oder anderen Kampfmassnahmen Gebrauch zu machen. Insbesondere dulden wir keine Entlassungen ohne Kampfmassnahmen. Wir bemühen uns gemeinsam mit den Arbeiter*innen, ein klares Klassenbewusstsein zu schaffen, und entledigen uns des Grundsatzes der Sozialpartnerschaft.»
Eingereicht hat den Antrag die Unia-Jugend. Und sie vertrat ihn engagiert. Delegierte Helis Genis sagte: «Ein GAV ist bloss ein Waffenstillstand. Wir müssen da raus und alle Kampfmassnahmen ausnützen.» Gegen den Antrag äusserte sich unter anderem der Sektor Tertiär.
Nach einer engagierten Debatte setzte sich die Unia-Jugend überraschenderweise durch. Damit ist ein neues Kapitel in der Gewerkschaftsgeschichte aufgeschlagen. Obwohl es genaugenommen ein altes ist. Denn die Diskussion unter den Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern über den Begriff und die Bedeutung von «Sozialpartnerschaft» ist jahrzehntealt.
Die Unia begreift sich seit ihrer Gründung als kämpferische und
offensive Gewerkschaft.
EINE LANGE GESCHICHTE
Eine lange Geschichte kurz erzählt: Unter dem Eindruck der in Italien und Deutschland aufstrebenden faschistischen Bewegungen schlossen die Arbeitgeber und die Gewerkschaften der Metall- und Maschinenindustrie 1937 ein sogenanntes Friedensabkommen. Es verbot jegliche Kampfmassnahmen und führte stattdessen ein System zu Lohnverhandlungen ein. Im Gleichschritt mit den MEM-Gewerkschaften gab auch die SP Schweiz ihre klassenkämpferische Position auf, bejahte den bürgerlichen Staat und bekannte sich zur Armee.
Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die «Friedenspflicht» weiter in Gesamtarbeitsverträgen festgeschrieben. Es folgten die Jahre des sogenannten Wirtschaftswunders, und die Brosamen, die von den Tischen der Patrons fielen, stellten die Lohnabhängigen ruhig. Den meisten ging es halbwegs gut, den Besitzenden ganz gut. Kuscheln statt kämpfen war das Motto. Das führte unter anderem auch dazu, dass sich die Gewerkschaften in der Zeit des Saisonnierstatuts nicht gerade mit Ruhm bekleckerten. Sie betrachteten die sogenannten Fremdarbeiter als Feinde und solidarisierten sich zu lange mit den ausbeuterischen Chefs statt mit den Kollegen an der Werkbank nebenan.
DIE WENDE
Es folgten Jahrzehnte der gewerkschaftlichen Stagnation. Bis in den 1990er Jahren die Wende begann: Auslöserin war auch die lange Rezession nach dem EWR-Nein bis 1997. Ausgehend von der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI, eine Gründungsorganisation der Unia), verabschiedeten sich mehr und mehr Gewerkschaften vom Nachkriegsmodell. Das hiess konkret: weg von der Beschränkung auf Gesamtarbeitsverträge und Lohnverhandlungen, weg auch von der absoluten Friedenspflicht. Das war gleichzeitig eine Reaktion auf das neoliberale Abbruchprogramm der Arbeitgeber und der rechten Parteien. Oder andersrum: Die Arbeitgeber wollten nicht einmal mehr die von ihrem Tisch fallenden Brösmeli den Lohnabhängigen überlassen. Sie bezeichneten GAV als Auslaufmodell und führten einen rücksichtslosen Klassenkampf von oben. Damals reifte auch in der Gewerkschaft Smuv – quasi der Mutter der Friedenspflicht auf gewerkschaftlicher Seite und ebenfalls eine Gründungsgewerkschaft der Unia – die Erkenntnis, dass gemeinsames Kämpfen mehr Erfolg für die Lohnabhängigen verspricht als die bisherige Kuschel-Doktrin. Es dauerte allerdings noch etliche Jahre und noch mehr Diskussionen, bis es zur Gründung der Unia kam. Die ganze Geschichte erzählen Ex-Unia-Co-Präsident Vasco Pedrina und Ex-GBI-Vize Hans Schäppi in ihrem neu erschienenen Buch «Die grosse Wende in der Gewerkschaftsbewegung» (rebrand.ly/pedrina).
KÄMPFERISCHE UNIA
Die Unia begreift sich seit ihrer Gründung als kämpferische und offensive Gewerkschaft. Und hat dies auch immer wieder demonstriert: Zum Beispiel mit der Grosskampagne für Rentenalter 60 auf dem Bau. Mit den unzähligen Grossdemos für Verbesserungen im Bauvertrag. Oder mit den Kampagnen für Mindestlöhne im Dienstleistungssektor. So gesehen, ist der neue Punkt 5.5, den die Delegierten angenommen haben, die Verschriftlichung dessen, was die Unia seit ihrer Gründung lebt (siehe Interview mit Bau-Chef Nico Lutz unten). Oder andersrum: Nur wer Arbeitskämpfe gewinnt, wird respektiert.
Unia-Geschäftsleitungsmitglied Nico Lutz zum Delegierten-Entscheid: Wird jetzt alles anders, Herr Lutz?
Der Kongress hat mit dem Entscheid für den Antrag der Unia-Jugend zur Sozialpartnerschaft ein Zeichen gesetzt. work hat mit GL-Mitglied Nico Lutz darüber gesprochen.
Nico Lutz, Leiter Sektor Bau. (Foto: Unia)
work: Nico Lutz, verändert sich jetzt die Arbeit der Unia fundamental?
Nico Lutz: Ich lese nach der Debatte die Entscheidung der Delegierten als ein starkes Signal für eine noch kämpferischere Unia. Inhaltlich ist es so, dass die Unia seit ihrer Gründung die sogenannte Friedenspflicht nie verabsolutiert hat. Der Sektor Bau zum Beispiel hat sich immer mit Protest- und Kampfmassnahmen gewehrt, wenn die Arbeitgeber sich nicht an die Verträge halten wollten oder um für die legitimen Rechte der Arbeitnehmenden einzustehen. Und auch in der Industrie, vor allem in der Westschweiz und im Tessin, kam es zu erfolgreichen Kampfmassnahmen. Kurz: Eine Gewerkschaft, die nicht streiken kann, ist keine Gewerkschaft. Und die Unia ist eine Gewerkschaft.
Während der Debatte wurden die GAV als Waffenstillstand bezeichnet. Einverstanden?
Das greift meines Erachtens zu kurz. Wir wollen eine kollektive Festlegung der Mindestarbeitsbedingungen. Weil die Arbeitnehmenden gemeinsam immer stärker sind als einsam. Darum hat der Kongress mehr GAV als ein klares Ziel beschlossen. Die Verhandlungen über neue oder bessere GAV sind ein dialektischer Prozess: Wir wollen mehr, die Arbeitgeber weniger. Da sind wir Gegner mit unterschiedlichen Interessen. Wenn ein Gesamtarbeitsvertrag abgeschlossen ist, gibt es dann durchaus ähnliche Interessen: Durchsetzung der Mindestarbeitsbedingungen für alle, Weiterbildung. Das organisieren Gewerkschaften und Arbeitgeber gemeinsam in paritätischen Kommissionen.
Die «Sozialpartner» sind auch in der nationalen Politik ein stehender Begriff.
Über Begriffe kann man sich immer streiten. Mir persönlich liegt «Vertragspartnerschaft» auch näher als «Sozialpartnerschaft». Tatsache ist aber, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in bundespolitischen Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle spielen. Das vergessen die Arbeitgeber zwischendurch, bis sie wieder merken, dass gegen die Gewerkschaften in unserem Land kaum etwas geht. Zum Beispiel bei der Revision des Pensionskassensystems, bei der AHV. Und da können die Gewerkschaften auch immer wieder wichtige Erfolge erzielen, wie etwa zuletzt bei der Überbrückungsrente für ältere Stellenlose. Oder bei der wirtschaftlichen Abfederung der Folgen der Covid-Pandemie. Aber diese Position müssen wir auch immer wieder verteidigen mit einem starken, kämpferischen und klaren Auftritt auf dem Terrain. Darum ist die Frage nicht Vertragspartnerschaft oder kämpferische Gewerkschaft. Wir wollen beides.