Jean Ziegler
Rot leuchtete der Abendhimmel über dem französischen Jura. Präsident Wladimir Putins Flugzeug hob kurz nach neun Uhr abends vom Genfer Flughafen Cointrin ab. Air Force One folgte 40 Minuten später Richtung Washington. An Bord der US-amerikanische Präsident Joe Biden.
Zurück blieben auf dem Platz von Plainpalais im Herzen der belagerten Stadt ein paar Hundert Angehörige von Opfern der beiden Weltherrscher. Die Genfer Regierung hatte ihnen den ganzen Tag über einen Umzug verboten und sie auf dem von der Polizei umzingelten Platz gefangen gehalten. Es war Mittwoch, der 16. Juni 2021.
Jeden Tag sterben 17’000 Kinder unter zehn Jahren am Hunger oder seinen direkten Folgen.
DIE KANNIBALISTISCHE WELTORDNUNG. Wir sind 7,8 Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Wir leben unter einer kannibalischen Weltordnung. Jeden Tag, auch an diesem 16. Juni, sterben 17’000 Kinder unter zehn Jahren am Hunger oder seinen direkten Folgen. Laut Statistik der Uno sind über eine Milliarde Menschen permanent unterernährt. Dafür weitgehend oder direkt verantwortlich sind die beiden Weltherrscher, die sich in Genf am 16. Juni für fünfeinhalb Stunden in der Villa La Grange getroffen hatten. Während die Kinder verhungern, steigern sie rasant die Waffenproduktion und den Waffenhandel. Im vergangenen Jahr hat die Waffenproduktion der Grossmächte die ungeheuerliche Summe von 1,645 Billionen US-Dollar überschritten. Allein die USA besitzen ein Arsenal von über 10’000 atomaren Sprengkörpern, viele davon um Hunderte Male stärker als die Bomben von Hiroshima und Nagasaki.
Die Stellvertreterkriege, finanziert und mit Waffen beliefert von den USA und Russland, richten fürchterliches Elend an. Ein Beispiel: Über 700’000 Männer, Frauen und Kinder wurden in Syrien seit März 2011 getötet, Hunderttausende schwer verletzt, vier Millionen in die Flucht gejagt. Putins Suchoi-Bomber zerstören mit ihren Splitter- und Brandbomben Wohnquartiere, Spitäler, Schulen, Werkstätten. Der russische Präsident unterstützt den Tyrannen Baschar al-Asad aus einem einzigen Grund: Er will die russische Marinebasis in Latakia, seiner einzigen Basis im Mittelmeer, erhalten. Es gibt keine Uno-Soldaten, keinen einzigen humanitären Korridor in Syrien. Das elfmal erhobene Veto Russlands im Sicherheitsrat lähmt die Uno.
Ähnliches gilt für die USA. In den ersten elf Maitagen bombardierten die israelische Luftwaffe und die Artillerie das Ghetto von Gaza, wo über 2 Millionen Menschen zusammengepfercht leben. Nach drei Tagen des Bombardements verlangte der Uno-Sicherheitsrat einen Waffenstillstand. Veto des US-Präsidenten Joe Biden, das er erst am 11. Mai zurückzog. Das Resultat: Hunderte palästinensische Kinder, Frauen und Männer starben, Tausende wurden verwundet.
STUMME ZEUGEN. Auf dem nächtlichen Platz von Plainpalais standen als stumme Zeuginnen und Zeugen dieser Verbrechen palästinensische Familien, Kurdinnen und Kurden, syrische Mütter, Jemeniten und andere Vertreter gequälter Volksgruppen. Zeugen der Ohnmacht? Keineswegs!
Gegen das mörderische Treiben der Weltherrscher erhebt sich die Zivilgesellschaft. Che Guevara schreibt: «El pueblo unido jamás será vencido» (das vereinte Volk ist unbesiegbar). Guevara hat recht.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Im letzten Jahr erschien im Verlag C. Bertelsmann (München) sein neustes Buch: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
Ein schreibendes Gruselkabinett. „Kannibalische Weltordnung“, „verhungernde Kinder“, „der Che“, „legitime Regierungen“. Holzkopfereien. Zum Glück strebt die Leserschaft hier gegen Null.
Nach Donald Trumps Abwahl als US-Präsident kann es Jean Ziegler wieder ungeniert verzapfen: Der russische Präsident Wladimir Putin und der syrische “Tyrann“ (er wurde mehrmals vom syrischen Volk, in befreiten Gebieten, wiedergewählt) Baschar al-Asad sind mindestens genauso schlimm wie der hochgejubelte US-amerikanische Präsident Joe Biden.
Die russische Marine in Latakia sowie alle weiteren russischen Verbände befinden sich auf ausdrücklichen Wunsch der legitimen syrischen Regierung in Syrien. Durch den Einsatz Russlands (zum Glück haben sie gute Waffen) konnte 2015 verhindert werden, sehr zum Leidwesen der USA und offenbar auch von Jean Ziegler, dass kopfabschneidende Islam-Terroristen in Syrien an die Macht kamen. Allerdings verharren, durch keinerlei UN-Beschlüsse ermächtigt, US-Verbände im Gebiet östlich des Euphrat und stehlen dort syrisches Erdöl. Ausserdem blockieren unrechtmässige westliche Sanktionen den Wiederaufbau Syriens und verhindern so, dass geflüchtete syrische Kinder in ihre Heimat zurückkehren können.
Che Guevara hat recht, Ziegler nicht: Biden und Putin können nicht gleichgesetzt werden. Die USA und die NATO Staaten sind Angriffsstaaten. Die russische Armee agiert in Syrien auf ausdrücklichen Wunsch der souveränen, legitimen und mehrfach gewählten syrischen Regierung. Ohne die Hilfe Russlands hätten wir heute in Syrien einen zweiten Irak, ein zweites Libyen.
Wenn Ziegler Krokodilstränen über die hungernden Kinder vergießt, dann ist das einerseits berechtigt, andererseits heuchlerisch. In Syrien droht eine Hungersnot, verursacht durch die illegale Blockade durch die USA. Mitvollzogen wird diese Blockade durch deren Vasallen, ja auch der Schweiz, beteiligt sich an diesem Verbrechen. Darunter leidet das syrische Volk. Jean Ziegler sollte wirklich langsam schweigen, statt ganz offensichtlich unqualifiziert von „Tyrannen“ zu schreiben und so sein Publikum zu verwirren. Das er am Ende seines Elaborats noch den Che zitiert ist – wie Ziegler selbst – nur noch peinlich.