Andreas Rieger
Die Profis kamen perfekt vorbereitet aus Brüssel angereist. EU-Kommissar Johannes Hahn wollte mit seiner Delegation am 23. November 2018 das Heu ins Trockene bringen und die Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen mit der Schweiz abschliessen.
Von Bern angereist kam Bundesrat Ignazio Cassis mit seiner Entourage. Er hatte weniger Zeitdruck. Und er hätte die «roten Linien» verteidigen sollen, die der Bundesrat ihm als Verhandlungsauftrag mitgegeben hatte, zum Beispiel: Kein Nachgeben beim Schweizer Lohnschutz!
Treffpunkt war das Hotel Savoy am Zürcher Paradeplatz. Über den Showdown wissen wir jetzt dank einer Recherche der NZZ am Sonntag (27.6.2021) Bescheid.
Verhandelten Gewerkschafter so stümperhaft wie Cassis, würden sie abgesetzt.
BUBENTRICKLI. Gleich zu Beginn gab Kommissar Hahn den Takt vor: Heute müsse man sich einigen, sonst würde die EU die Verhandlungen abbrechen. Und man müsse schnell arbeiten, sein Flugzeug fliege bereits am Nachmittag zurück. Schritt für Schritt diskutierten Hahn und Cassis sodann über die Differenzen im Vertragsentwurf. Während der Mittagspause redigierten die Brüsseler Profis eine Endfassung, die sie den verdutzten Schweizern dann auf den Tisch legten. Ihr Bubentrickli haute hin, Cassis knickte ein. Er sei nicht sicher, ob der Bundesrat dem Text zustimmen werde, aber er lege ihn der Regierung vor. Ende der Verhandlung. Und Handschlag. Hahn nahm den frühen Heimflug und informierte Europa, dass eine Vereinbarung mit der Schweiz abgeschlossen worden sei.
DIE FUNDIS. So stümperhaft wie ein Praktikant hatte Cassis also verhandelt. Gewerkschafts-Verhandlerinnen und -Verhandler, die sich von den Patrons so über den Tisch ziehen liessen, würden abgesetzt. Umso mehr, als der Hang zum Powerplay von Hahn berühmt ist. Er gehört in der EU zum harten Kern jener Fundis, für welche die Binnenmarktfreiheiten das Höchste sind. Diese wollten den Schweizer Lohnschutz schon lange schleifen. Eine Unia-Recherche * hat bereits vor Jahren das Netzwerk dieser Hardliner in Deutschland und Österreich aufgezeigt. Gewisse Schweizer Euroturbos hatten diese Recherche als «Verschwörungstheorie» abgetan. Die NZZ-Recherche über die Vorgänge im Hotel Savoy zeigen nun: von wegen!
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.
* Der Angriff der süddeutschen Arbeitgeber auf den Schweizer Lohnschutz, 2019.