Stur wie eine Eselin
Die Wahrheit ist ja bekanntlich ein stark umworbenes, kostbares Gut. Und sieht je nach Blickwinkel sehr unterschiedlich aus.
Pocken, Tuberkulose, Kinderlähmung, Typhus: Einst rafften sie auch in der Schweiz Zehntausende dahin. Liessen sie gelähmt, fiebrig, nach Luft ringend und Blut spuckend zurück. Oft bis zum Tod. Zum Beispiel die Tuberkulose, die Tb, auch Schwindsucht genannt: Letztmals wütete sie hier von 1905 bis 1906 und hinterliess 18’385 Tote. Die Nidwaldner Schriftstellerin Isabelle Kaiser, die selber an der Krankheit litt, beschrieb sie 1921 so: «Ein wilder Geier, kreist er durch die Lüfte – und hackt sich ein in jede zarte Brust. Als Schacherer des Todes und der Grüfte. Da, wo er niedersaust, erstirbt die Luft.»
«Wo der Geier niedersaust, erstirbt die Luft.»
POCKEN-MAL. Die Älteren unter uns er-innern sich noch gut daran, als jeweils der Röntgenwagen auf dem Schulhof vorfuhr. Für die «Schirmbildaktionen», zur TB-Früherkennung. Und an die Impfung. Die Älteren unter uns erinnern sich auch noch an die Pockenimpfung. Am Oberarm haben sie immer noch dieses kreisrunde Mal. Diese Delle, die deshalb entstand, weil der Impfstoff nicht gespritzt, sondern mit einer Impfpistole injiziert wurde.
Die Älteren unter uns erinnern sich zudem an die Polio-Schluckimpfung: «Schluckimpfung ist süss. Kinderlähmung ist grausam», warben sie damals für das gelobte Sirüpli. Inzwischen sind TB, Pocken und Polio bei uns ausgerottet. Derart ausgerottet sogar, dass wir sie nicht einmal mehr fürchten.
SCHÜTZT EUCH! Dafür lehrt uns jetzt Corona das Fürchten. Schon rollt die vierte Welle der Pandemie an. Und schon wieder sind Intensivstationen am Limit. Wie auch die Pflegerinnen und Pfleger. Immer mehr hängen ihren Beruf an den Nagel, weil sie erschöpft sind und frustriert. Neuerdings mischt sich in ihren Frust über die Zwölf-Stunden-Schichten und den chronischen Mangel an Personal auch noch ein «wachsendes Unverständnis» für das Corona-Verhalten gewisser Leute ein. Ein Unverständnis für deren Leicht- oder Starrsinn.
Von den hospitalisierten Corona-Erkrankten sind derzeit 90 Prozent nicht geimpft. Nicht unbedingt, weil sie es nicht wollen. Die offizielle Impfkampagne scheint viele nur noch nicht erreicht zu haben. Das sagt Unia-Migrationsexperte Hilmi Gashi. Auch er war noch nicht geimpft, als ihn das Virus in den Ferien erwischte. Und auch er ist kein Impfgegner. Gashi erzählt seine Geschichte und lanciert einen dringlichen Appell. «Schützt euch! Impft euch!», ruft er uns zu und nimmt auch die Arbeitgeber in die Pflicht.
NICHT VERGESSEN. Wäre alles vielleicht anders gekommen, wenn wir von Corona nicht als Pandemie reden würden? Wenn wir beim guten, alten Wort «Seuche» geblieben wären? Ja, schätzt der Schweizer Schriftsteller Peter von Matt (84): «Ich plädiere dafür, diesen alten Begriff nicht zu vergessen», sagte er kürzlich in einem Interview («Sonntagszeitung»). Und: «Wir tun so, als sei das Coronavirus eine völlig neue Erfahrung für die Menschheit. Das ist es aber nicht. Es steht in der langen Tradition der Seuchen.» Schon möglich, dass, wenn wir Corona als Seuche begreifen und fürchten täten, auch das Impfen nicht so umstritten wäre. Unbestritten jedenfalls ist das: Weggebracht haben wir Pocken & Co. nur durch breites Impfen und mehr Hygiene. Und das ist noch nicht so lange her.