Stur wie eine Eselin
Die Wahrheit ist ja bekanntlich ein stark umworbenes, kostbares Gut. Und sieht je nach Blickwinkel sehr unterschiedlich aus.
Hindukusch, Kandahar, Dschalalabad: Es liegt nicht nur an der Schweizer Winterschumarke, dass diese Namen in unseren Ohren klingen. Nach Freiheit. Abenteuer. Und Opium. Nach Sehnsuchtsorten. Zwar reiste Karl May in seinen Abenteuerromanen nie so weit nach Osten. Sein britischer Kollege Rudyard Kipling aber schon. In seiner Erzählung «Der Mann, der König sein wollte» planen zwei britische Abenteurer, mit ihren Martini-Henry-Gewehren im afghanischen Kafiristan (heute Nuristan) die Herrschaft zu übernehmen. Es endet übel. 1939 reist auch die Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach mit dem Auto in den Hindukusch. Lange bevor Afghanistan zum Hippie-Mekka wird. Besonders Kabul zieht in den 1960er und 1970er Jahren Tausende Blumenkinder, Entdecker und Ausgeflippte an. Auf der «Hasch-Route» mit dem VW-Bus oder per Autostop unterwegs nach Indien, bleiben viele hängen. Afghanistan ist damals eine Monarchie und es gibt starke revolutionäre Bewegungen. Die Stimmung im Land: weltoffen. Doch König Mohammed Zahir Schah fällt 1973. Dann mischen sich die Sowjets und die USA ein. Das ist der Anfang vom Ende der Sehnsuchtsreisen.
Afghanistan ist magischer Ort des Begehrens und des Scheiterns.
ZEIT VERLOREN. Kein schlimmer Land als Afghanistan: Wer heute im Westen Afghanistan sagt, meint Taliban. Oder «Steinzeit» oder «Mittelalter». Der Taliban ist bei uns zum Bösen an und für sich avanciert. Zum Frauenpeitscher. Zum Zerstörer-Zombie. Soraya, eine ehemalige Abgeordnete in Kabul, beschreibt das so: «Afghanistan ist eine Leerstelle auf eurer geistigen Landkarte.» work-Autor Oliver Fahrni hat mit ihr für das grosse Afghanistan-Dossier gesprochen. Und macht darin eine differenzierte Einordnung der Situation. Aber auch der bewegten Geschichte. Sein Text ist eine Wohltat im Vergleich zur Einfalt und zum Einheitsbrei, die uns die meisten Medien derzeit zumuten. Sie feiern die US-Besatzung von Afghanistan auch jetzt noch, nach dem grossen Scheitern, als grossen Segen. Insbesondere für die afghanische Frau. Soraya sieht das anders, sie sagt: «Das Gegenteil ist wahr. Das Bündnis der Amerikaner mit den Kriegs- und Drogenfürsten hat die konservativen Kräfte der Gesellschaft gestärkt. Wir Frauen haben viel Zeit verloren.» 20 Jahre nach dem Einmarsch der USA und nach dem Einsatz von 2000 Milliarden Dollar hinterlässt der Westen ein ausgeblutetes, tief gespaltenes, bitterarmes Afghanistan, dessen Bevölkerung vor einer Hungerkatastrophe steht. Jetzt müssen die Taliban Afghanistan neu erfinden.
ELEFANTENFRIEDHOF. Der deutsche Schriftsteller Theodor Fontane schrieb: «Vernichtet ist das ganze Heer, / Mit dreizehntausend der Zug begann, / Einer kam heim aus Afghanistan.» Das war 1859, beim Rückzug der Briten aus Kabul. Afghanistan ist der Elefantenfriedhof ganzer Imperien. Unglaublich, aber wahr: Am Hindukusch haben sich vor den USA schon Griechen, Mongolen, Inder, Türken, Russen und Briten die Zähne ausgebissen. Ganz zu schweigen von der Sowjetunion. Krieg, Krieg, Bürgerkrieg und nochmals Krieg. Und die Eindringlinge scheiterten alle. Ob in der Realität oder in der Literatur, Afghanistan ist magischer Ort des künstlerischen Begehrens und des kolonialen Scheiterns.
Fahrni, klar, und seine närrischen dialektischen Purzelbäume. Und das läuft dann unter „differenziert“.