Schon seit Wochen sind die Intensivstationen zu fast 80 Prozent ausgelastet. Das klingt nicht dramatisch, ist es aber. Pflegerin Annette Jaggi sagt: «Wir müssen jeden Tag die Pflegequalität herunterfahren.» Jetzt hat sie genug.
ANNETTE JAGGI: Die Intensivpflegefachfrau will ihren Beruf verlassen, bevor der Frust zu gross wird. (Foto: Matthias Luggen)
Zum Beispiel das Zähneputzen. Die Intensivpflegefachfrau Annette Jaggi sagt, die Mundpflege komme bei den Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation seit Wochen zu kurz. «Das ist eins von vielen Dingen, die wir weglassen müssen, wenn wir überlastet sind.»
Eine Bagatelle? Nein, sagt Jaggi. Menschen, die künstlich beatmet werden, haben ein erhöhtes Risiko, eine Spitalinfektion einzufangen. Also eine Krankheit, die sie noch nicht hatten beim Spitaleintritt. Die Folgen sind Komplikationen, im schlimmsten Fall der Tod. Regelmässige Mundpflege senkt dieses Risiko und ist deshalb auf der Intensivstation Standard.
«Das Spital findet keine Leute mehr, die auf der Intensivstation arbeiten können und wollen.»
KONSTANTE ENTTÄUSCHUNG
Aber eben. Die Standards können Jaggi und ihre Kolleginnen und Kollegen seit Beginn der vierten Coronawelle Ende Juli oft nicht einhalten. Die 44jährige sagt: «Was wir aktuell machen, ist nicht mehr optimale Pflege.»
Nach über zwanzig Jahren auf der Intensivstation steigt Jaggi jetzt aus. Ende November wechselt sie die Stelle und koordiniert fortan Organtransplantationen. Den starren Drei-Schichten-Betrieb, das Einspringen an freien Tagen und – schon vor Corona – die konstante Enttäuschung, nicht die Pflege leisten zu können, die sinnvoll wäre: all das mag sich die Pflegerin im 50-Prozent-Pensum und dreifache Mutter nicht mehr antun. Natürlich lasse sie jetzt die Kolleginnen und Kollegen «im Schlamassel» zurück, sagt sie. «Aber ich muss etwas ändern, bevor der Frust zu gross wird.»
Aktuell sind die Schweizer Intensivstationen im Schnitt zu 77 Prozent ausgelastet (Stand 28. September). Seit nunmehr sechs Wochen liegt der Wert immer zwischen 73 und 82 Prozent.
Und die Zahl täuscht, sagt Jaggi. Denn: «Schon bei 80 Prozent müssen wir die Qualität herunterfahren.» Zum Beispiel weniger oft sogenannte Mobilisationen machen. Dabei richten zwei bis drei Pflegende die Patientin auf, so dass sie während rund 20 Minuten am Bettrand sitzt. Jaggi: «Das hilft ihnen, sich zu orientieren. Dabei kontrollieren wir auch die Lunge, suchen nach Druckstellen und so weiter.»
STARKE ÜBERLASTUNG
Studien zeigen: Mobilisationen fördern den Heilungsprozess. Aber sie brauchen Zeit. Zeit, die die Pflegenden auf der Intensivstation nicht haben. Weil sie zu wenige sind. Auf Jaggis Station sind kürzlich zwei Teammitglieder ausgefallen. Wegen Überlastung. Eine weitere Kollegin hat die Zusatzausbildung zur Intensivpflege abgebrochen. Und es kommen keine neuen Pflegenden nach. Jaggi: «Das Spital findet keine Leute mehr, die auf der Intensivstation arbeiten können und wollen.»
Die Verbleibenden füllen deshalb am Ende der Schicht ein «Arbeitsüberlastungsprotokoll» aus. Um zu dokumentieren, was sie nicht erreicht haben. So normal ist die Überlastung schon, dass es dafür ein Formular gibt.
Und der Irrsinn hört nicht auf. Wie alle Abteilungen müsste die Intensivstation rentabel sein. Ist sie aber nicht, sagt Annette Jaggi: «Coronafälle auf der Intensivstation brauchen bis zu viermal mehr Personal als andere.» Von den Krankenkassen gibt’s aber nur eine Fallpauschale. Allen sei klar, dass diese hinten und vorne nicht reiche, sagt Jaggi: «Trotzdem werden wir an diesen Zahlen gemessen. Das leuchtet mir einfach nicht ein.»
30. Oktober: Nationale Pflegedemo in Bern
Endlich bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege: Dafür gehen die Pflegenden am 30. Oktober in Bern auf die Strasse. Denn obwohl sie in der Pandemie an vorderster Front arbeiten, stiessen ihre Forderungen bisher bei Politik und Arbeitgebern auf taube Ohren. Jetzt reicht’s! unia.ch/pflegedemo
Ich arbeite nun seit 44 Jahren auf der Pflege, habe zur Grundausbildung zwei zusätzliche HF Titel und immer auf der akutesten Seite meines Berufes gearbeitet!( (Anästhesiepflege, Rettungsdienst) Habe mit über Vierzig Jahren Mitgliedschaft beim VPOD schon vor 20 Jahren für die genau gleichen Themen wie heute gekämpft, weitgehend ohne Erfolg, wenn man gesagt hat wir müssen mehr ausbilden, ist man nur belächelt worden! Mir tut es für die Patienten und auch die jüngeren Kolleginnen leid, dass Sie in so einer Misere arbeiten müssen und dass viele Ihren Traumberuf aufgeben! Die Idee, ein Spital nach den üblichen Regeln des sogenannten freien Marktes zu betreiben ist krank.Konkurenz im Gesundheitswesen ebenso! Wer für die Patienten eine optimale Pflege anbieten möchte braucht Zeit, genug Personal und eine Führung die endlich begreifen sollte,dass die Sklaverei effektiv abgeschafft ist! Im heutigen Umfeld werden die Patienten nicht gesund, nehmen Schaden und das Pflegepersonal leidet und wird auf die Länge auch krank, siehe die Zahlen bei Burnout und Co! Wer in diesen Zeiten aus der Pflege aussteigt, dem kann man dass wirklich nicht übel nehmen, ganz im Gegenteil! Und die Totsparer und Erbsenzähler in der Politik haben es immer noch nicht gerafft, das Ihre Sparübungen und die Parteiübergreifende Ignoranz des Problems Pflegenotstand nicht mit ein paar Hauruckübungen und halbherzigen Pseudo- aktionen zu lösen ist! Ich werde bald aufhören zu arbeiten und erinnere mich gerne an die längst vergangene, auch strenge Zeit, als noch richtig am Patienten gepflegt wurde und nicht wie heute stundenlang am PC gesessen und die Katastrophe verwaltet wird!Den Verantwortlichen in den Führungsetagen der Spitäler und den Politikern möchte ich nur eins sagen: Shame on you! Die Pflegeinitiative ist ein guter Beginn in die richtige Richtung, bitte stimmen Sie für sich und für uns und legen Sie ein Ja in die Urne, danke!
Streiken wäre wohl die Lösung, um endlich ernst genommen zu werden…. Pflegende werden das der Obrigkeit und ihrer Berufsethik wegen jedoch nie tun, das wissen die Zuständigen und deshalb bleiben die Machtverhältnisse dieselben. Also unterstützen wir die Sache mit Mitdemonstrieren am 30.10. und dann mit dem Annehmen der Initiative! Das sollte uns nach der Pandemierfahrung nun wirklich nicht schwer fallen, und ja, dann noch klatschen ist auch gut!
Wer die Pflege-Initiative, die als nächstes zur Abstimmung ansteht, ablehnt, der ist ein unverbesserlicher, empathieloser Ignorant. Der Pflege-Beruf muss dringendst – auch finanziell – aufgewertet werden. Klatschen tu‘ ich dann, wenn die Initiative angenommen wurde.