Jean Ziegler
Der Wind jagte die Regenwolken vom nahen Meer herüber. Auf dem «Friedhof der Märtyrer» wurde der mit Blumen bedeckte Sarg des Abd al-Aziz Bouteflika in die Erde gesenkt. Der ehemalige Präsident der Republik Algerien, Kommandant der Südfront im Befreiungskrieg (1954–1962), Vorkämpfer der blockfreien Bewegung und Doktorand der Universität Genf, ist am Freitag, dem 17. September, 84jährig im nahen Zéralda, einem Vorort von Algier, verstorben.
Bouteflika blieb der Schweiz zutiefst dankbar.
JUNGER MANN IM ABGEWETZTEN MANTEL. Meine Gedanken gehen zurück zu einem kalten Tag im November 1979. Als junger Assistenzprofessor an der Universität Genf lag mein Büro an der Rue St-Ours. Ein junger Mann, klein gewachsen, mit lebhaften schwarzen Augen, frierend in einem abgewetzten blauen Mantel, stand im Gang: Abd al-Aziz Bouteflika. Ich war ihm nie zuvor begegnet. Er sagte: «Ich habe ihr Buch zur Soziologie des neuen Afrika gelesen. Ich möchte bei Ihnen eine Doktorarbeit schreiben.»
Ein Jahr zuvor war der algerische Staatspräsident Houari Boumedienne auf dem Operationstisch einer sowjetischen Klinik unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Während 14 Jahren arbeitete Bouteflika als dessen Aussenminister. Er galt als sein natürlicher Erbe. Doch die algerischen Generäle machten den farblosen, inkompetenten Chadli Bendjedid zum Staatschef. Bouteflika ging ins Exil.
Während zweier Jahre – dreimal die Woche – arbeitete ich mit Bouteflika an seiner Dissertation. Beendet wurde sie nicht. Bouteflikas Ersparnisse waren aufgebraucht, die Universität verweigerte ihm ein Stipendium. Er zog nach Dubai.
Ein fürchterlicher Bürgerkrieg, geführt von der terroristischen Islamischen Heilsfront (FIS), verwüstete ein Jahrzehnt lang Algerien. Schliesslich holten die Generäle 1999 Bouteflika zurück.
In seinen zwanzig Jahren als Präsident vollbrachte er Eindrückliches: Waffenstillstand und das Wiederversöhnungsgesetz; die Schaffung eines effizienten Systems der sozialen Sicherheit; Aufstieg Algeriens zur dominierenden Macht in Nord- und Schwarzafrika.
MIT SCHWEIZER HILFE. Für die meisten Leserinnen und Leser dieser Kolumne ist der algerische Befreiungskrieg frühe Steinzeit. Umso wichtiger ist es, daran zu erinnern, welch bedeutende Rolle die Schweiz damals gespielt hat. Von der Bundespolizei toleriert, waren Genf und Lausanne Stützpunkte und Rückzugsgebiet der politischen Führung der Nationalen Befreiungsfront (FLN). Zwei Millionen algerische Fremdarbeiter in Frankreich zahlten eine revolutionäre Kriegssteuer. Geheime Kuriere, auch Schweizer, brachten monatlich das Geld nach Genf und von dort nach Tunis. Schweizer Gewerkschafter und Diplomaten wirkten als diskrete Verbindungsleute zwischen den Aufständischen und der französischen Kolonialmacht. Als im März 1962 endlich General de Gaulle Verhandlungen im französischen Evian am Genfersee akzeptierte, beherbergte die Schweiz die algerische Delegation in einem Hotel auf dem Waadtländer Signal de Bougy.
Algerien wurde im Juni 1962 unabhängig. Bouteflika, der blitzgescheite, todesmutige, warmherzige Revolutionär, blieb der Schweiz zutiefst dankbar.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Im letzten Jahr erschien im Verlag C. Bertelsmann (München) sein neustes Buch: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
Unglaublich! Ziegler schafft es einmal mehr, einen seiner „alten Freunde“ zu betrauern, ohne die verheerenden politischen Folgen seines Handelns im späteren Leben auch nur zu erwähnen. Dass Bouteflika 2008 die Verfassung änderte, um sich eine dritte Amtsperiode zu sichern, ist kein Problem für Ziegler. Für die algerische Bevölkerung hingegen war die dadurch eingeleitete politische Stagnation eine Katastrophe und die Bereicherung Bouteflikas und seines Clans ein wirtschaftliches Desaster. Dass die Work-Leser*innen nie das ganze Leben von Zieglers “alten Freunden” erfahren, ist mehr als bedauerlich – und ein Schlag ins Gesicht des Hirak, dem Kampf der algerischen Bevölkerung gegen das korrupte Unrechtsregime.
Die Kerls sind immer „blitzgescheit“ und haben lebhafte Augen. Vielleicht sollten Zieglers Geisterschreiber mal etwas an ihrem Vokabular arbeiten. Bevor sie ihre Dissertationen unfertig liegen lassen.